Meist lebe ich in Stille, kenne mich mit zeitgenössischer Musik nicht besonders aus. Mit dem ESC verband ich bisher nur das belanglose Schlager-Pop-Geträller früherer Jahre, hatte ihn lange schon nicht mehr verfolgt. Gestern beim Zappen dann zufällig rein geraten, dran geblieben – und war überrascht, wie gut es mir gefallen hat!
Hier also meine TopTen und ein paar Kommentare:
- Ukraine: Shum / Go_A
Wow, diese krass-knackig-durchdringende SPRACHE, die gelungene, ungemein fetzige Fusion traditioneller Folk-Sounds mit Techno-Rhytmen / Electro-Elementen – sagenhaft! Dazu ein tolles Outfit, kreative, assoziativ erzählende Visuals – ich bin ja hin und weg! Eine fetzige Andersartigkeit, die mich mitnimmt. - Italien: Zitti E Buoni / Måneskin
Klassischer Hard Rock, italienisch gesungen (was einfach toll klingt!), anturnend, mitreissend! Die Performance, die Klamotten und immer alle Aufmerksamkeit der Kamera auf Sänger und Band – so kennen und lieben wir das seit den 70gern! „Rock’n roll will never die“ war die erste Reaktion von Måneskin auf den Gesamtsieg. Richtig so, mehr ist dazu nicht zu sagen! (Deutsche Tele-Voter: 7 Punkte (Platz 4), deutsche Jury: 6 Punkte, (Platz 5). - Frankreich: Voilá / Barbara Pravi
Die ganze Kraft und Ausstrahlung der großen, abendländischen Kulturnation Frankreich in klassischer Chanson-Form, vorgetragen mit Stimme und Verve, die an Edith Piaf und Jaques Brel erinnern – und doch wirkt es nicht angestaubt! Die Eleganz der französischen Sprache gepaart mit schlichter Eleganz des Auftritts, Stimme, Klavierbegleitung, keine potenziell ablenkende Video-Inszenierung, kein bemüht sexualisierendes Outfit – einfach schön! Publikum DE: 10 Punkte (Platz 2), Jury: 12 Punkte (Platz 1) – da sind sich ja mal alle fast einig! - Litauen: Discoteque / The Roop
Bringt die Sehnsucht nach dem Dance Floor im 2.Corona-Jahr auf eingängige, sehr kunstvoll arrangierte Weise zum zeitgemäßen Ausdruck! Echter Augenschmauss, ganz ohne bildgewaltige Opulenz, sondern mit grafischer Dynamik glänzend, mit der wiederum das Outfit und die Moves stimmig korrespondieren. Musikvideo-Kunst, edel, fetzig… toll! (bekam aus Deutschland 12 Punkte vom Publikum, ist damit bei uns die Nummer 1, der deutschen Jury aber grade mal Platz 10 mit einem Punkt wert). - Russland: Russian Woman / Manizha
Witzig und provozierend macht sich Manizha über die „russische Frau“ lustig, die sie dann aber ausgiebig und mitreissend „empowert“, wie man heute gerne sagt. Sagenhaft der Start, in dem sie zunächst in einem übertrieben gewaltigen Traditionskosüm regelrecht eingemauert erscheint, sich dann aber daraus befreit. Das Brachiale im Russischen kommt hier toll rüber, ergänzt von opulenten Visuals, teils mit erzählendem Charakter. Irgendwo hinten stürzen ständig „die Reiter des Patriarchats“ in den Abgrund – so jedenfalls meine Assoziation. (Deutsche Voter: 5 Punkte (Platz 6), deutsche Jury: 2 Punkte, (Platz 9) - Malta: Je Me Casse / Destiny
Was für eine kraftvolle Stimme für eine 18-Jährige! Destiny rockte die Bühne und zeigt mit ihrer Performance in kurzem Glitzeroutfit und Overknees, wie schön und sexy Frau im Full-Size-Format sein kann. Einen „tollen Wonneproppen“ hab‘ ich sie spontan genannt, was vielleicht für manche/n nicht respektvoll klingt, jedoch lieb & lobend gemeint ist. Vom internationalen Publikum bekam sie nur 47 Punkte, von deutschen Votern keinen, von der deutschen Jury immerhin 8 (Platz 3). Hier bin ich mal bei der Jury! - Island: 10 Years / Daði og Gagnamagnið
Ein „nerdiger“ Auftritt, in vieler Hinsicht auf überzeugende Art „daneben“. Die Klamotten, Haartrachten, die verrückten Halbkreis-Keybords und ihre Performance, farblich und grafisch stimmig untermalt und ergänzt vom Hintergrundvideo – das Gesamtkunstwerk hat mich spontan überzeugt! Beim Nachhören fand ich den musikalischen Anteil, einen etwas zu eingängigen Disko-Pop nicht mehr ganz so super,. - Deutschland: I Don’t Feel Hate / Jendrik
Soooooo unglaublich NETT, dieser Song! Nett gesungen, nett und humorig in Szene gesetzt,mit eingängiger Melodie, richtig ehrlich nett gemeint – aber leider völlig vorbei am Zeitgeist!
„I don’t feel hate“ entspricht nun mal gar nicht der Gemütslage der Massen, aus vielen nachvollziehbaren Gründen. Da wirkt die forcierte Nettigkeit mitsamt der gut gemeinten Botschaft nur als der ungeliebte Zeigefinger, der zum besseren Benehmen aufruft. Dass die Kostüm-Hand mit Victory-Zeichen auch als Stinkefinger interpretiert werden konnte und wohl auch sollte, hat es nicht besser gemacht. (letzter Platz mit 0 Punkten in der Gesamtwertung). Guter Song, nur eben 2021 völlig falsch! - Azerbaijan: Mata Hari / Efendi
Ein schneller, stampfender Ryhtmus treibt den Song voran, der die berühmte Spionin als „starke Frau“ feiert. Wieder gefällt mir die Einbindung folkloristischer Elemente in die moderne Performance sehr gut, ein paar Sätze kommen gar in Landessprache. Efendi und ihre vier Begleiterinnen treten im sexy Huren-Outfit auf, das hier sogar inhaltlich passt. Toll gesungen, attraktiv getanzt, fetzig und schnell – gefällt mir! - San Marino: Adrenalina / Senhit
Weil eine TopTen zehn Plätze braucht: Gefällt mir vom großen Rest noch am Besten! Diese kurz auftauchende arabische Flöte ab und an im Hintergrund, der eingängige, gut tanzbare Song, die Rap-Einlage – alles ok, kann man hören!
Und sonst so?
Karl Lauterbach hat den ESC kritisiert: „Konzerte mit 3.500 Zuschauern können wir uns noch nicht leisten, dafür ist es noch zu früh“. So sehr ich die Warnungen Lauterbachs ansonsten zu schätzen weiß, so heftig widerspreche ich ihm hier: Doch, manchmal MUSS man sich auch wieder etwas leisten, selbst mit Risiko! Der ESC21 ist nicht „irgendein Konzert“, sondern ein Europa-Event, dem 200 Millionen Menschen zugesehen haben – eine der wenigen Gelegenheiten, uns als Europäer/innen zu erleben, mal nicht streitend, lästernd, einander blockierend, sondern richtig gut drauf! So ein Lichtblick ist im 2.Corona-Jahr gar nicht zu überschätzen und wäre ohne Publikum nicht dasselbe gewesen.
Mein Fazit: Der ESC-Wettbewerb ist gegenüber früheren Zeiten richtig gut geworden: musikalisch besser, diverser, großartig in den Inszenierungen, fast jeder Auftritt ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk – das schaue ich mir auch nächstes Jahr wieder an! Peter Urban (73), langjähriger ESC-Kommentator, der aus gesundheitlichen Gründen nicht einmal vor Ort war, sollte allerdings den Stab an eine jüngere Person weiter reichen, die ein bisschen spritziger kommentiert. (Und bei den Outfits mancher Frauen wünsch ich mir etwas mehr Vielfalt.)
- Eurovision Song Contest 2021 – frisch bearbeitet in der Wikipedia – und SEHR informativ für die vielen, die den #ESC2021 „sonst eigentlich nicht“ verfolgen. Alle Ergebnisse, Interpreten, Vorgeschichten, Kontroversen und Absagen übersichtlich auf einer Seite.
- Eurovision Song Contest – Alles zum ESC – Homepage des ESC, alles in maximaler Ausführlichkeit.
Diesem Blog per E-Mail folgen…
Diskussion
Kommentare abonnieren (RSS)
11 Kommentare zu „Rock’n Roll will never die – #ESC2021, meine TopTen, kurz kommentiert“.