Claudia am 23. Mai 2021 —

Rock’n Roll will never die – #ESC2021, meine TopTen, kurz kommentiert

ESC21 LOGOMeist lebe ich in Stille, kenne mich mit zeitgenössischer Musik nicht besonders aus. Mit dem ESC verband ich bisher nur das belanglose Schlager-Pop-Geträller früherer Jahre, hatte ihn lange schon nicht mehr verfolgt. Gestern beim Zappen dann zufällig rein geraten, dran geblieben – und war überrascht, wie gut es mir gefallen hat!

Hier also meine TopTen und ein paar Kommentare:

  1. Ukraine: Shum / Go_A
    Wow, diese krass-knackig-durchdringende SPRACHE, die gelungene, ungemein fetzige Fusion traditioneller Folk-Sounds mit Techno-Rhytmen / Electro-Elementen – sagenhaft! Dazu ein tolles Outfit, kreative, assoziativ erzählende Visuals – ich bin ja hin und weg!  Eine fetzige Andersartigkeit, die mich mitnimmt.
  2. Italien: Zitti E Buoni / Måneskin
    Klassischer Hard Rock, italienisch gesungen (was einfach toll klingt!), anturnend, mitreissend! Die Performance, die Klamotten und immer alle Aufmerksamkeit der Kamera auf Sänger und Band – so kennen und lieben wir das seit den 70gern! „Rock’n roll will never die“ war die erste Reaktion von Måneskin  auf den Gesamtsieg. Richtig so, mehr ist dazu nicht zu sagen! (Deutsche Tele-Voter: 7 Punkte (Platz 4), deutsche Jury: 6 Punkte, (Platz 5).
  3. Frankreich: Voilá / Barbara Pravi
    Die ganze Kraft und Ausstrahlung der großen, abendländischen Kulturnation Frankreich in klassischer Chanson-Form, vorgetragen mit Stimme und Verve, die an Edith Piaf und Jaques Brel erinnern – und doch wirkt es nicht angestaubt!  Die Eleganz der französischen Sprache gepaart mit schlichter Eleganz des Auftritts, Stimme, Klavierbegleitung, keine potenziell ablenkende Video-Inszenierung, kein bemüht sexualisierendes Outfit  – einfach schön!  Publikum DE:  10 Punkte (Platz 2), Jury: 12 Punkte (Platz 1) – da sind sich ja mal alle fast einig!
  4. Litauen:  Discoteque /  The Roop
    Bringt die Sehnsucht nach dem Dance Floor im 2.Corona-Jahr auf eingängige, sehr kunstvoll arrangierte Weise zum zeitgemäßen Ausdruck! Echter Augenschmauss, ganz ohne bildgewaltige Opulenz, sondern mit grafischer Dynamik glänzend, mit der wiederum das Outfit und die Moves stimmig korrespondieren. Musikvideo-Kunst, edel, fetzig… toll! (bekam aus Deutschland 12 Punkte vom Publikum, ist damit bei uns die Nummer 1, der deutschen Jury aber grade mal Platz 10 mit einem Punkt wert).
  5. Russland:  Russian Woman / Manizha
    Witzig und provozierend macht sich Manizha über die „russische Frau“ lustig, die sie dann aber ausgiebig und mitreissend „empowert“, wie man heute gerne sagt. Sagenhaft der Start, in dem sie zunächst in einem übertrieben gewaltigen Traditionskosüm regelrecht eingemauert erscheint, sich dann aber daraus befreit. Das Brachiale im Russischen kommt hier toll rüber, ergänzt von opulenten Visuals, teils mit erzählendem Charakter. Irgendwo hinten stürzen ständig „die Reiter des Patriarchats“ in den Abgrund – so jedenfalls meine Assoziation. (Deutsche Voter: 5 Punkte (Platz 6), deutsche Jury: 2 Punkte, (Platz 9)
  6. Malta:  Je Me Casse / Destiny
    Was für eine kraftvolle Stimme für eine 18-Jährige!  Destiny rockte die Bühne und zeigt mit ihrer Performance in kurzem Glitzeroutfit und Overknees, wie schön und sexy Frau im Full-Size-Format sein kann. Einen „tollen Wonneproppen“ hab‘ ich sie spontan genannt, was vielleicht für manche/n nicht respektvoll klingt, jedoch lieb & lobend gemeint ist. Vom internationalen Publikum bekam sie nur 47 Punkte, von deutschen Votern keinen, von der deutschen Jury immerhin 8 (Platz 3). Hier bin ich mal bei der Jury!
  7. Island: 10 Years / Daði og Gagnamagnið
    Ein „nerdiger“ Auftritt, in vieler Hinsicht auf überzeugende Art „daneben“. Die Klamotten, Haartrachten, die verrückten Halbkreis-Keybords und ihre Performance, farblich und grafisch stimmig untermalt und ergänzt vom Hintergrundvideo – das Gesamtkunstwerk hat mich spontan überzeugt! Beim Nachhören fand ich den musikalischen Anteil, einen etwas zu eingängigen Disko-Pop nicht mehr ganz so super,.
  8. Deutschland: I Don’t Feel Hate / Jendrik
    Soooooo unglaublich NETT, dieser Song! Nett gesungen, nett und humorig in Szene gesetzt,mit eingängiger Melodie, richtig ehrlich nett gemeint – aber leider völlig vorbei am Zeitgeist!
    „I don’t feel hate“ entspricht nun mal gar nicht der Gemütslage der Massen, aus vielen nachvollziehbaren Gründen. Da wirkt die forcierte Nettigkeit mitsamt der gut gemeinten Botschaft nur als der ungeliebte Zeigefinger, der zum besseren Benehmen aufruft. Dass die Kostüm-Hand mit Victory-Zeichen auch als Stinkefinger interpretiert werden konnte und wohl auch sollte, hat es nicht besser gemacht. (letzter Platz mit 0 Punkten in der Gesamtwertung). Guter Song, nur eben 2021 völlig falsch!
  9. Azerbaijan: Mata Hari / Efendi
    Ein schneller, stampfender Ryhtmus treibt den Song voran, der die berühmte Spionin als „starke Frau“ feiert. Wieder gefällt mir die Einbindung folkloristischer Elemente in die moderne Performance sehr gut, ein paar Sätze kommen gar in Landessprache. Efendi und ihre vier Begleiterinnen treten im sexy Huren-Outfit auf, das hier sogar inhaltlich passt. Toll gesungen, attraktiv getanzt, fetzig und schnell – gefällt mir!
  10. San Marino:  Adrenalina / Senhit
    Weil eine TopTen zehn Plätze braucht: Gefällt mir vom großen Rest noch am Besten! Diese kurz auftauchende arabische Flöte ab und an im Hintergrund, der eingängige, gut tanzbare Song, die Rap-Einlage – alles ok, kann man hören!

Und sonst so?

Karl Lauterbach hat den ESC kritisiert: „Konzerte mit 3.500 Zuschauern können wir uns noch nicht leisten, dafür ist es noch zu früh“. So sehr ich die Warnungen Lauterbachs ansonsten zu schätzen weiß, so heftig widerspreche ich ihm hier: Doch, manchmal MUSS man sich auch wieder etwas leisten, selbst mit Risiko! Der ESC21 ist nicht „irgendein Konzert“, sondern ein Europa-Event, dem 200 Millionen  Menschen zugesehen haben – eine der wenigen Gelegenheiten, uns als Europäer/innen zu erleben, mal nicht streitend, lästernd, einander blockierend, sondern richtig gut drauf!  So ein Lichtblick ist im 2.Corona-Jahr gar nicht zu überschätzen und wäre ohne Publikum nicht dasselbe gewesen.

Mein Fazit: Der ESC-Wettbewerb ist gegenüber früheren Zeiten richtig gut geworden:  musikalisch besser, diverser, großartig in den Inszenierungen, fast jeder Auftritt ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk – das schaue ich mir auch nächstes Jahr wieder an! Peter Urban (73), langjähriger ESC-Kommentator, der aus gesundheitlichen Gründen nicht einmal vor Ort war, sollte allerdings den Stab an eine jüngere Person weiter reichen, die ein bisschen spritziger kommentiert. (Und bei den Outfits mancher Frauen wünsch ich mir etwas mehr Vielfalt.)

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Diskussion

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11 Kommentare zu „Rock’n Roll will never die – #ESC2021, meine TopTen, kurz kommentiert“.

  1. Ja, das hatte dieses Jahr schon eine andere Qualität als die Male zuvor. Jeder hat so seine Vorlieben. Mir fehlt Portugal in Deinen Top Ten. Auf einiges anderes hätte ich auch verzichten können. Aber was die Pravi geboten hat war einsame Weltklasse. Die Frau spielt in einer völlig anderen Liga als alle anderen Teilnehmer.

  2. Hi Brendan: Ja, Pravi ist ein Wunder! So eine Perfektion hört man selten, die Stimme schafft alles mit der nötigen Kraft und Leichtigkeit, was das Lied erfordert. Ganz im Unterschied z.B. zu Victoria aus Bulgarien, die mit Kleinmädchenstimme ins Mikro singt und bei den hohen Tönen fast völlig aussteigt – oder Eden Alene (Israel), die in den Höhen schrill/kieksig klingt, bzw. einfach „dünn“ wie Stefania aus Griechenland.
    Beim Beitrag aus Portugal (Black Mamba) gefällt mir die etwas „quäkende“ Männerstimme einfach nicht, aber das ist eben Geschmacksache. Richtig gut gesungen hat ja auch der Schweizer, aber es ist halt nicht meine Musik.

  3. Ohne Tänzer, ohne einen eigenen Tanzschritt, kein abgefahrenes Bühnenbild, keine Kostümierung, weitgehend Licht von hinten, nur die Stimme mit präziser Gestik und Mimik ohne bei der Performance zur Karikatur zu werden und ohne interpretationsbedürftige, politische, selbstreferentielle oder ironische Anspielungen. Klar gehört dazu ein guter Produzent, ein guter Song (aka Komponist) und sehr gute Coaches. Aber machen musste sie das ganz alleine.

    Die Stimme des Portugiesen ist sicherlich gewöhnungsbedürftig. Aber ich liebe nun Mal guten Soul und das war einer von der besseren Sorte.

  4. Ich habe den ESC eigentlich nie wirklich gemocht. Aber ich hab mich die Tage dabei ertappt, dass ich die TOP 50, die von unserem Haussender WDR4 bzw. von dessen HörerInnen ausgewählt wurden, schön fand.

    Es waren allerdings überwiegend die ganz ollen Kamellen, die ich mochte. Die Dinge – sogar ESC-Liedchen – verklären sich eben, je älter sie sind. Bin ich da die Ausnahme? Ja, eine von vielen. Nicht, dass ich mit Rock nichts anzufangen wüsste, aber auch da sind es mehr die Klassiker.

    Gelegentlich werde ich via Spotify etwas nachholen und mir einige der gelobten Titel anhören. :-)

  5. ja, ja, ich nehm es mir immer wieder vor es mal anzusehen. Mit Youtube ist das doch kein Problem, ich versprech dir, ich tue es.
    ganz ehrlich
    Ottmar

  6. @Horst: hast du denn mal reingehört in die TopTen? Ich habs doch extra bequem gemacht… wozu Spotify?

    @ottmar: Ich wollte niemanden zum ESC bereden, sondern hatte die Hoffnung, dass meine Aufbereitung eigener Favoriten dazu anregt, mal reinzuhören – und vielleicht zumindest zu irgend einem der Songs was zu sagen.

    @Brendan: stimme ja voll zu in der Begeisterung und im Lob für Pravi und den Stil dieses Beitrags. Aber: ich finde auch Arrangements im Musik-Video-Stil klasse, wenn sie gut sind. Das ist m.E. genauso eine relevante Kunstform geworden wie der klassische Chanson mit seiner puristischen Vortragsweise.
    Finde gut, dass der ESC die ganze Bandbreite akzeptiert!

  7. Ja, sicher. Solche Bühnenshows können durchaus großartig sein ( leider ist der Meister solcher Shows vor ein paar Jahren gestorben) und dass das beim ESC gezeigt wird, ist gut. Die Länder sind ja frei in der Inszenierung. Problematisch finde ich, dass die naturgemäß wenigen guten Inszenierungen untergehen neben den vielen eher mittelmäßigen. Der Beyoncé look-a-like Award war nun Mal nicht Thema des Abends. Aber insgesamt war das Niveau sicher durchaus höher als die Jahre zuvor.

  8. @Claudia, schätze, bei Youtube stört mich die Werbung. Ich habe dort keinen Premium-Account, bei Spotify schon. :-)

  9. Die Ukraine hatte ich ebenfalls favorisiert; auch Litauen und Russland waren in meinen Top 10. Island fand ich bei ihrem zweiten Versuch eher eklektisch, mit ihrem Song aus dem Vorjahr hätten sie beim ersten sicher besser abgeschnitten, wäre die Show 2020 nicht ausgefallen. Deutschlands Abschneiden war schmerzlich, ich hatte das Lied (und überhaupt alle anderen) nie zuvor gehört und begriff den vorletzten Platz nicht. Daß Italien Sieger wurde, konnte ich erst am Sonntag erkennen, nachdem ich den Song nochmals ausgeruht am Tag auf mich wirken ließ. Zu meinem Twitter-Lieblings gehört an diesem Abend dieser Tweet bezüglich Rußlands Beitrag: „In München kostet so ein Kleid 1600 Euro Kaltmiete.“

  10. Also ich fand den hier sehr passend:
    https://mobile.twitter.com/search?q=%23ESC

  11. Abgesehen von Deiner wirklich liebevoll zusammengestellten Liste der Top 10: Deutschland, wir haben ein Problem!

    Als Stefan Raab damals für die ARD das Casting der Kandidaten übernommen hatte, war noch alles gut. Guildo Horn, Max Mutzke und nicht zuletzt Lena, die uns einen Sieg beschert hatte, waren allesamt große Achtungserfolge beim ESC mit teilweise sehr guten Platzierungen. Aber irgendwann hat der NDR gesagt: „nein, den Raab brauchen wir nicht mehr, das können wir auch alleine!“

    Und seitdem haben wir keinen Blumentopf mehr gewonnen. Natürlich ist Raab nicht unumstritten, aber eins ist klar: er ist ein talentierter, solider Musiker, der Soul und Groove im Blut hat, eine ganze Menge Instrumente spielen kann, sehr gut vernetzt ist (von Michael Bublé bis Helge Schneider und Scooter), facettenreich und extrem funky ist. Sein Engagement von 2004 bis 2011 war beispiellos und der Erfolg gab ihm Recht. Umso enttäuschender, dass der NDR beschloss, wieder sein eigenes Ding zu machen á là Ralph Siegel, der außer „Ein bisschen Frieden“ nichts Wesentliches zum Grand Prix – wie es früher hieß – beigesteuert hat, außer einer Folge von Flops und „Germany: 0 points“. Seitdem gab es synthetische, namenlose „Künstler“, die krampfhaft versucht haben, mit mehr oder weniger merkwürdigen Nummern aufzutreten, die entweder unemotional waren oder komplett belanglos.

    Von daher: NDR, holt Euch wieder den Raab! Oder wegen mir auch Jan Delay, aber holt Euch bitte irgendwen, der uns wieder ein paar Punkte beschert.