Da nun die „heiße Phase“ des Wahlkampfs eingeläutet ist und man kaum mehr irgend ein Medium ansehen kann, ohne gleich von einschlägigen Neuigkeiten und kämpferischen Statements überschüttet zu werden, wundere ich mich, dass mein Interesse eher nachlässt als steigt.
Nein, ich bin gewiss nicht „politikverdrossen“, im Gegenteil, die Zeiten sind ja doch ungewöhnlich spannend, so dass ich den ganzen Frühling und Sommer die Ereignisse und Diskussionen allüberall mit großem Interesse verfolgte: Wirtschaftskrise, Geldsystem und Schulden, Internet-Kulturkampf – und sogar eine spritzige neue Partei, die „klar machen zum ändern“ auf ihre Fahnen schreibt und massenhaft Zulauf hat. Als „Krisenvorsorge“ hatte ich mir sogar Vorräte für 14 Tage angeschafft, falls mal die Banken ausfallen und der Warenfluss stockt. (Da bin ich den Katastrophen-Szenarien der Kassandra-Blogs aufgesessen und nun mit zwei Kilo zusätzlichem Körpergewicht gestraft: wo Vorräte sind, greift man auch mal öfter zu. :-)
Und doch neige ich in diesen Tagen zum Wegschalten bzw. gar nicht erst einschalten. „Wahlkampfarena“ ist ein Wort, dass mich sogar irgendwie anwidert. Vielleicht liegt es ja nur am Wetter, an der Melancholie der letzten Spätsommertage, dass mich die aktuellen Aufreger nicht so erreichen. Vielleicht ist es aber auch die Inszenierung selbst, diese so selbstverständliche VERANSTALTUNG, die vor der Wahl einen „Kampf“ vorsieht, in dem Politiker und Bürger gefordert sind, nun ein paar Wochen lang forciert Demokratie zu zelebrieren. Danach, wenn dann eine neue (evtl. alte) Regierung steht, dürfen, ja SOLLEN alle wieder einschlafen. Die Politik zieht sich in ihre Gremien zurück und der Bürger widme sich bittschön dem Konsum, damit wir „aus diesem tiefen Tal“ mittels Wachstum wieder heraus kommen – na was denn sonst?
Der Wahlkampf erscheint mir quasi als „lange Nacht der Demokratie“ – und ich mag das „lange-Nacht-Format“ nicht, denn wenn ein Thema erstmal so verpackt und verdichtet daher kommt, bedeutet das immer: etwas liegt damit schwer im Argen!
Nun, war es nicht schon immer so? Warum nervt es mich auf einmal mehr als gewöhnlich? Weil es eben nicht mehr so sein müsste, denn mittlerweile haben wir mit dem Internet eine Kommunikations- und Partizipationstechnologie, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Und KEINE der Altparteien, auch nicht die GRÜNEN, versuchen ernsthaft, etwas daraus zu machen, dass den Bürgern strukturell MEHR Mitwirkung und Mitbestimmung erlaubt – und zwar IMMER, fortlaufend, quasi „in Echtzeit“, nicht immer nur ein paar Wochen alle vier Jahre.
Politische Willensbildung in Zeiten des Internet
Parteien sind laut Grundgesetz „Organe der politischen Willensbildung“. Die Art, wie sie diesen Willen bilden bzw. kanalisieren, nämlich in ihren weitgehend abgeschotteten Parteigremien, in denen die Mitglieder ein „Wir-Gefühl“ entwickeln und Weltanschauungen im Bündel übernehmen, ist ungefähr so zeitgemäß wie das Bündeln von Musikstücken auf einer CD, die man nur „im Ganzen“ kaufen kann.
Alle Jubeljahre werden umfangreiche Parteiprogramme voller unkonkreter Allgemeinplätze in langwierigen und aufwändigen Verfahren erarbeitet und verabschiedet, während die Politiker im Amt dann doch „auf Sicht agieren“, weil die Ereignisse es so erfordern. Über komplexe Sachfragen lässt man kleine Expertenrunden befinden, oft von den Lobbys gestellt (Telekommunikationskonzerne erarbeiten Telekommunikationsgesetze, die Pharma-Lobby schreibt die Gesundheitsreformen mit, etc. usw.) oder beauftragt gar gleich eine Anwaltskanzlei. Interaktion mit dem Bürger bleibt auf platte Sprüche und hehre Versprechungen beschränkt – ich vermisse die Ansätze, die Weisheit der Vielen zu nutzen und sie mittels neuer Strukturen in sinnvolle, konstruktive Bahnen zu lenken. Ein „Parteiprogramm“ (vielleicht eines Tages auch ein „Regierungsprogramm“) könnte auch eine Community-Plattform sein, an die jeder „andocken“ kann und die eigene Expertise in der einen oder anderen Sache beitragen – ganz ohne den Zwang, auch gleich alle anderen bereits vorhandenen Sichtweisen zu anderen Fragen mittragen zu müssen.
Ich rede hier nicht einer platten, mehrheits-entscheidenden direkten Demokratie das Wort, in der ja z.B. die Einführung der Todesstrafe locker durch ginge, wenn mal wieder ein besonders übles Verbrechen die Gemüter erregt. Nein, es muss natürlich Mechanismen geben, die Partizipation der Vielen in vernünftige Bahnen zu lenken – da muss viel nachgedacht und auch experimentiert werden, doch außer den Piraten denkt niemand im Ernst daran, mit dem Netz tatsächlich „mehr Demokratie zu wagen“.
Ja, die Piratenpartei wurde gescholten, weil sie lediglich zu ein paar zentralen Punkten (Internet, Überwachung, Datenschutz, Bürgerrechte, Bildung) Stellung bezieht und eben NICHT mit einem glatten Gesamtprogramm antritt. Man werde in fortlaufenden Diskussionsprozessen ermitteln, wie im Fall des Falles zu entscheiden sei, hieß es. DAS empfinde ich nicht als Mangel, sondern als zukunftsweisendes Verfahren in einer Zeit, die insgesamt viel zu schnellebig ist, um mit den wolkigen Formulierungen der abgesegneten Verlautbarungen von vorgestern tatsächlich Politik zu machen (tatsächlich wird das ja auch in den Altparteien nicht gemacht, sondern es entscheiden letztlich Funktionäre und Hinterzimmerrunden aus eigener faktischer Macht).
Mein FAZIT: Wahlkampf ist ein Relikt wie der Sommerschlussverkauf, der ja auch immer noch stattfindet, obwohl es ihn EIGENTLICH nicht mehr bräuchte. Und mehr als je zuvor zeigt er auf, wie defizitär eine Demokratie ist, deren Personal sich nur alle vier Jahre mal an den Bürger wendet, bzw. medienhörig in „Arenen“ steigt, um unterhaltsame Gladiatorenkämpfe zu geben.
Denn man KÖNNTE ja jetzt anders, wenn man nur wollte. Aber sie wollen eben nicht!
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7 Kommentare zu „Wahlkampf – die „lange Nacht“ der Demokratie“.