Zur großen Überraschung westlicher Politiker und Militärs haben sich 250.000 gut ausgebildete und ordentlich bewaffnete afghanische Soldaten in großer Mehrheit geweigert, gegen die Taliban zu kämpfen. Wie konnte das geschehen?
Der völlig planlose Abzug der Nato-Truppen hatte zur Demoralisierung erheblich beigetragen. Dass auch die Firmen gegangen sind, die zur Wartung der Flugzeuge und Hubschrauber gebraucht werden, hat die stets behauptete Schlagkraft der afghanischen Truppen zusätzlich minimiert. Der Hauptgrund für die meist kampflose Übergabe der Macht an die Taliban war jedoch der mangelnde Wille, für eine korrupte, vom Ausland gestützte Regierung gegen die bei einem Teil der Afghanen durchaus beliebten Taliban zu kämpfen.
Entgegen der schönfärberischen Darstellung des militärischen Wirkens der westlichen Truppen waren die Taliban nie weg, sondern beherrschten durchweg Teile des ländlichen Raums, der vom Westen weitgehend ignoriert wurde. Die Fixierung auf die Städte und Standorte, ohne auch nur zu bemerken, dass selbst dort die Loyalität zum neuen Regime aus Gründen gering war und blieb, zeugt von einem Tunnelblick, der seinesgleichen sucht.
Die vielen NGOs haben es offenbar vorgezogen, mit den Erfolgen ihres Wirkens zu glänzen anstatt ein realistisches Bild der Lage zu geben, das sicher weniger rosig ausgefallen wäre. Auch die Korruptheit der Regierenden, die Hilfsgelder in die eigenen Taschen umgeleitet haben und sich – auch außer Landes – tolle Villen gebaut haben sollen, wurde vom Westen einfach hingenommen und in der Wirkung auf den „Kampfwillen“ der Truppen und Ortsvorsteher komplett unterschätzt.
Trumps Erbe: der bedingungslose Abzug
Dass der Afghanistan-Einsatz ein Ende hat, haben vermutlich viele westliche Menschen mitgetragen, nicht aber die Art und Weise, wie dieser Abzug stattfindet! Dem wahnsinnigen Trump ist es zu verdanken, dass der Abzug mit Termin und bedingungslos angesagt wurde. Wozu dann noch Friedensverhandlungen, wenn man das Hauptdruckmittel gleich vorab aus der Hand gibt? Die Taliban mussten ja nur verzögern und abwarten, bis die Westler gegangen wären, um dann das Land zu übernehmen. Was dann auch geschehen ist, schneller als alle dachten.
Warum Biden einfach auf „Vollzug“ gesetzt hat, anstatt den Abzug an Bedingungen zu knüpfen? Ich denke, er wollte das beliebte Mem „unsere Soldaten nachhause holen“ nicht konterkarieren und hat die Wirkung des bedingungslosen Abzugs, der mittlerweile wie eine Flucht wirkt, krass unterschätzt.
Die vergeigte Evakuierung:
Nicht „verpennt“, sondern erstmal abgelehnt!
Womit ich bei unseren Regierenden ankomme, die nie vorhatten, alle Ortskräfte und ihre Familien rechtzeitig aus Afghanistan zu evakuieren. Dabei geht es nicht nur um direkte Angestellte der Truppen, sondern auch um die Leute, die für die NGOs gearbeitet haben und ihre Angehörigen. Ein rechtzeitiger Antrag der GRÜNEN vom Ende Juni, der die Evakuierung all dieser Menschen forderte, wurde von CDU, SPD und AFD abgelehnt. Denjenigen, die unabweisbar zum engsten Kreis der Mitarbeiter gehörten, wurden auch noch bürokratische Hürden in den Weg gelegt, die nur wenige überspringen konnten. Gleichzeitig wollte Seehofer noch weiter nach Afghanistan abschieben!
Das fiese Versäumnis: Es gab keinen Plan für die Evakuierung, obwohl seit dem Abkommen von Dohar Anfang 2020 sonnenklar war, dass die westlichen Truppen Mitte dieses Jahres abziehen würden. Erst jetzt, da dieses Verhalten als absolut beschämend, als im-Stich-lassen der Leute und Verrat an allen viel beschworenen westlichen Werten gesehen wird, die Empörung ordentlich Wellen schlägt und offene Briefe wichtiger Presseorgane ein VISA-Notprogramm fordern, wird auf den letzten Drücker versucht, noch zumindest jene heraus zu holen, die es schon bis zum Flughafen geschafft haben. Aber was wird aus all den Anderen, die noch anderswo auf Hilfe warten?
Dass es die Bundesregierung immerhin geschafft hat, übrig gebliebenes Bier, Wein, Sekt und einen 27 Tonnen schweren Gedenkstein aus Afghanistan zu evakuieren, macht die Ignoranz, die hier am Werk war, noch ganz besonders deutlich.
Und was kommt jetzt?
Die Taliban haben nun die Macht in Afghanistan, daran wird erstmal nicht gerüttelt, von keiner Seite. Wie sie diese Macht ausüben werden, ist allerdings noch völlig unsicher. Werden sie erneut eine Schreckensherrschaft wie 1996 bis 2001 errichten, wie es viele befürchten? Schließlich ist ihr politisches Ziel ein islamisches Emirat, in dem islamisches Recht (Scharia) gilt. Andrerseits haben sie vielleicht gelernt, wie manche Beobachter meinen. Ihr damaliges Regime hat sie in die Isolation geführt, zudem ist Afghanistan 2021 doch ein Stück weit anders als das Land Ende der 90ger.
Seit einer Woche verkünden sie (auch jetzt, nach dem Sieg), dass sie Menschen- und Frauenrechte, Minderheiten und Meinungsfreiheit respektieren werden („soweit die dem islamischen Recht entsprechen“). Niemand müsse Angst haben und allesollten einfach weiter ihrer Arbeit nachgehen. Sie rückten in Kabul ein, angeblich um als Ordnungsmacht Chaos und Plünderungen zu verhindern.
Ist das alles glaubhaft? Wie man hört und liest, sind die Taliban nicht alle gleich: Es gibt Hardliner und Gemäßigte, Militante und Politiker, wobei Letztere angeblich wissen, dass es ihnen schaden wird, wenn sie sich wie die Axt im Walde aufführen. Sie würden die durchaus vorhandenen Sympathien im Volk teilweise wieder verlieren, aber wichtiger noch: 70 bis 80 % der Bevölkerung ist von Zuwendungen aus dem Ausland abhängig. Bleiben diese Zahlungen aus, sieht es eher schlecht aus für die Akzeptanz des Taliban-Regimes. Die Bürger erwarten eine nicht korrupte Regierung, die Frieden schafft und ihre Lebensverhältnisse zumindest nicht verschlechtert. Eine echte Mehrheit PRO Taliban scheint es nicht zu geben, denn sonst würden sie Wahlen oder zumindest eine Art Referendum abhalten, um sich vom Volk legitimieren zu lassen.
Niemand weiß, was passieren wird. Wir werden sie an ihren Taten der nächsten Wochen beurteilen: Wenn sie Mindeststandards in Sachen Menschenrechte einhalten, wird die internationale Gemeinschaft (?) mit ihnen konstruktiv zusammen arbeiten. Wenn nicht, dann nicht. So klingen jedenfalls derzeit die Statements vieler Beobachter und Akteure. Von einem „Funken Hoffnung“ ist die Rede – hoffen wir, dass das nicht die nächste Täuschung über das Geschehen in Afghanistan wird!
Infos und Gefühle: Scham und Wut
Den gestrigen Sonntag, den „Tag der Machtergreifung durch die Taliban“ hab‘ ich damit zugebracht, das Geschehen über viele Medien zu verfolgen. An schnellsten war Twitter, na klar! In der TV-Berichterstattung hatten (wie immer während akuter Katastrophen) die öffentlich-rechtlichen noch nichts zu bieten, also schaute ich CNN. Da ging es mir jedoch zuviel um amerikanische Präsidenten, ich wollte wissen, was abgeht. Das konnte ich dann auf Al Jazeera TV mitverfolgen, und zwar in einer recht umfassenden Weise – alle Achtung! Habe mir den Sender in die Favoriten aufgenommen.
Je mehr ich mitbekam und je deutlicher die Blamage des Westens, insbesodere der Bundesregierung wurde, desto mehr ergriffen mich Gefühle von Scham und Wut, die ich so gar nicht erwartet hatte. Zum Geschehen in Afghanistan hatte ich im Lauf der Zeit zwar immer mal eine Meinung, aber so richtig mitgenommen hat mich das nicht. Jetzt stellte ich fest, wie sehr es mich aufregt, wenn sich unsere Regierung in der Welt als unverlässliche, ihre Mitarbeiter im Stich lassende ehrlose Bande aufführt. Ich schämte mich für unser Land, obwohl ich als Individuum ja gar nichts damit zu tun habe und wurde auch wütend angesichts der eigenen Machtlosigkeit gegenüber dieser Ignoranz.
Jetzt versuchen sie, die Kurve grade noch zu kriegen – nicht etwa aus eigenem Antrieb, sondern weil Scham und Wut von allzu vielen sie in Bewegung versetzt hat. Zu spät, zu langsam, zu wenig – ein Desaster!
Update #Afghanistan #Kabul ist gefallen bzw. wurde kampflos den #Taliban übergeben.
Der afgh. Präsident floh aus dem Land.
Daraufhin kam es im Flughafen von Kabul zu apokalyptischen Szenen.
Menschen klammerten sich an Flugzeugen, um zu fliehen.
Weitere Details im Thread👇
(1/17) pic.twitter.com/nFa5MkQgDA— Nikita Gerassimow (@NikGerassimow) August 16, 2021
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Wer noch dazu bloggt?
- Stefan Rose (Fliegende Bretter) am 16.8.: Kapitulation. Bankrott. Verrat.
- Stefan Sasse (Delibaration Daily) am 15.8.: Der große Verrat – ein weiter Blick auf die Geschichte des Einsatzes seit 2001.
- Christoph Lütgert (Blog der Republik) am 16.8.: Seit Afghanistan: Union und SPD sind unwählbar geworden – zumindest für mich
- Horst Schulte am 13.8.: Mitgefühl, Empathie. Alles gut und schön.
- Gabriel Noll (Verfassungsblog) am 31.5.21 (!): Mehr als nur empfundene Verpflichtung – Grundrechtliche Schutzpflichten für das Leben afghanischer Ortskräfte
Ach ja, von wegen „Lage falsch eingeschätzt“:
Auftritt im Bundestag, 2.4.2014: Scholl-Latour erklärt Afghanistan für verloren
„Der Krieg in Afghanistan ist verloren – das sollten wir uns eingestehen“, lautet die Bilanz von Scholl-Latour. „Und wir sollten uns überlegen, wie wir da rauskommen.“ Die internationale Gemeinschaft habe in den vergangenen zwölf Jahren offenbar nichts dazugelernt. Die Vorstellung, man könne nach einem Abzug der Schutztruppe mit einem kleinen Restkontingent die afghanische Armee ausbilden, sei „völlig illusorisch“. Zumal Letztere, das habe er selbst in Gesprächen mit Soldaten erfahren, aus gesinnungslosen „Tagelöhnern“ bestehe.
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30 Kommentare zu „Das Afghanistan-Desaster: Mega-Blamage des Westens – und doch ein Funke Hoffnung?“.