„Ich heiße Claudia und bin Alkoholikerin“, die rituelle Begrüßungsformel geht mir erstaunlich locker über die Lippen. Über sieben Jahre sind seit meinem letzten AA-Meeting vergangen und jetzt sitze ich wieder „an den Tischen“, kaum zu glauben! Es ist wie ein nach Hause kommen, obwohl ich keinen der Anwesenden kenne. Es braucht keine Bekannten oder gar Freunde, um sich in dieser Runde richtig zu fühlen, das ist ja gerade das Faszinierende an der berühmtesten Selbsthilfegruppe der Welt.
Es beginnt mit dem Lesen der bekannten Texte: Präambel, zwölf Schritte, zwölf Traditionen, dann die Gedanken zum Tag, heute: „Über die, die noch leiden“. Während ich zuhöre und mir dabei einen grünen Tee zubereite, spüre ich, wie das Leiden von mir weicht. Als würde eine Last von meinen Schultern genommen, mit jeder Viertelstunde fühle ich mich leichter.
Welches Leiden? Das wäre eine lange Geschichte, von der eigentlich nur zu sagen ist, daß ich sie für abgeschlossen hielt – und das war ein Irrtum, der gerade begann, gefährlich zu werden. Deshalb sitze ich jetzt hier, Tieckstraße 17, Berlin Mitte, und bin dankbar, dass es AA noch gibt.
Kennen gelernt hab‘ ich die Meetings 1990, als mein allzu aktives Leben mit zunächst beiläufigem Entspannungstrinken in eine hoffnungslose Suff-Phase übergegangen war. Schon damals hätte ich nicht so lange leiden müssen, wenn ich nicht bis zuletzt an dem verrückten Gedanken festgehalten hätte: Ich habe alles im Griff, muss mich nur zusammenreissen, mal richtig ausspannen, vielleicht einen anderen Job finden, neue Leute kennen lernen – doch war ich lange schon jenseits aller Möglichkeit, noch irgend etwas aus eigener Kraft ändern zu können. Mein erster Lebensentwurf war am Ende, wie sollte ich aus den Trümmern denn etwas Neues kreieren? Es hat lange gedauert, bis ich mir überhaupt eingestand, dass ich mittlerweile ein respektables Alkoholproblem am Hals hatte – und selbst dann lag mir der Gedanke noch ferne, jemand anderer als ich selbst könne da irgend etwas ausrichten. Schließlich hielt ich mich für intelligent, belesen, kommunikationsfähig – sah‘ mich aber leider nicht von außen, denn dann hätte ich vielleicht früher bemerkt, daß es jetzt um ganz andere Dinge ging. Zu allererst um das Aufgeben dieser Gedanken: ICH kann, ICH will, ICH muss, ICH werde….
Nein, ich war nicht einsichtig und zu nichts bereit. Meine Welt mußte sich katastrophisch verdüstern, kleine Unfälle sich häufen, das tägliche Kreisen im immerselben Elend richtig lange schmerzen, physisch, psychisch und geistig, bis endlich etwas in mir zerbrach, bis mein ganzer Größenwahn am Alkohol zerschellte.
Endlich konnte ich dann auch in ein Meeting gehen, ohne Bedenken und Besserwisserei, völlig offen, denn in mir war nichts mehr, nur noch dunkle Leere. Ein Vakuum, das sich mit den Texten der AA vollsog, denn was sie sagen, knüpfte direkt an mein Erleben an: Wir gaben zu, daß wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind…. Ich hatte angedockt!
Es war ein Wendepunkt in meinem Leben, ab dem sich alles ganz anders anfühlte, als wäre tatsächlich Claudia Vers.1.0 gestorben. Und die 2.0 war erstmal nur ein glückliches Kind, Neues entdeckend, spielerisch der Welt und den Anderen begegnend, ohne das entsetzlich beschränkende Gefängnis eines hypertrophierten Egos. Auch beruflich ging plötzlich alles wie von selbst, anstrengungslos, ich mußte nur immer „JA“ sagen – etwas, was ich ohne „aber“ früher nicht einmal denken konnte.
Mehrere Jahre war ich völlig „trocken“, irgendwann verließ ich AA, Alkohol war einfach kein Thema mehr. Ich hatte mit Yoga angefangen und dachte: Wozu noch mit Leuten um einen Tisch sitzen, die zwar auch Spirituelles vermitteln, wo aber doch immer wieder Alkohol besprochen wird – dieser langweilige Schnee eines abgelegten Gestern. Irgendwann wollte ich dann auch das Thema „Nicht-Alkohol“ abschließen, die Identifikation „Ich, Claudia, Alkoholikerin“ ebenso aufgeben wie alle anderen. Und trank neugierig ein Glas Sekt: Nichts passierte, natürlich nicht. Es schmeckte nicht mal und die Wirkung fand ich störend.
Nichts änderte sich. Außer, daß ich mich jetzt wieder fragen mußte: Soll ich mittrinken? Die Gelegenheiten, zu denen das Hauptschmiermittel unserer Gesellschaft verabreicht wird, sind ja unüberschaubar. Ich trank also gelegentlich wieder mit, nicht oft zwar, aber ich bemerkte schon bald die Richtigkeit eines alten AA-Spruchs: Man macht da weiter, wo man aufgehört hat. Die Geschichte des Alkohols ist ins Gehirn eingraviert, da bildet sich nichts zurück. Genau wie ehedem, so stellte ich fest, konnte ich ab dem dritten Glas das Ende oft nicht finden. Wachte dann am nächsten Morgen auf, erinnerte mich oder auch nicht und war mir furchtbar peinlich! Das wollte ich eigentlich nicht wieder erleben – und so hat der Kampf wieder begonnen. Der Gedanke „das hab ich heute im Griff“ stand wieder da in all seiner Pracht und Gefährlichkeit…
Gestern hatte ich mal wieder in trauter Zweisamkeit dem Wein zugesprochen, zu Hause, also in ganz „ungefährlichem“ Zusammenhang. Dann nahm ich das Glas noch mit an den PC und mailte ein bißchen an liebe Freunde… und heut‘ morgen konnte ich im Sent-Ordner sehen, dass ich gemailt hatte, las verwundert fremd klingende Texte – DAS war dann für mich der Punkt! Wenn ich mich selber lese wie eine Fremde, ist ganz klar: Ich hab es NICHT im Griff! Nicht den Alkohol, nicht mich selbst, von der Welt gar nicht zu reden. Und einen Kampf, den ich ganz gewiß verliere, brauche ich nicht nochmal zu führen, all das hatte ich ja schon, übergenug!
Und deshalb saß ich heut‘ im Meeting. Und lasse jetzt wieder das erste Glas stehen.
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