In der Krise zeigt sich der Charakter, heißt es. Das gilt auch für ein ganzes Land wie Deutschland. Klimakatastrophe, Corona, Russland-Ukraine-Krieg: an all diesen Krisen zeigt sich immer schmerzhafter, wie rückständig, rechthaberisch und apathisch wir sind. Bloß keine Veränderungen, alles muss seinen geregelten Gang gehen und wird im Zweifel auf die lange Bank geschoben. Lieber noch ein Gutachten, zur Not eine Arbeitsgruppe, vielleicht ist ja auch jemand anders zuständig. Die Hoffnung stirbt zuletzt, dass alles so bleiben kann, wie es ist, wenn wir nur träge und blind genug bleiben und die Not-Wendigkeiten einfach ignorieren.
In seiner Kolumne „Tagesanbruch: Bis es kracht“ dekliniert Florian Harms die deutsche Realitätsverweigerung anhand der drei Krisenfelder durch.
- Ukraine: „Angesichts dieser Szenarien [=Putins eskalierender Krieg und mögl. Weiterungen] wirkt es seltsam, dass die Bundesregierung sich so schwertut, ihre Waffenversprechen einzulösen und den Kauf von russischem Erdgas schneller zu drosseln, obwohl das einer Studie zufolge möglich wäre. Man kann dieses Verhalten als Realpolitik bezeichnen: Mehr geht halt leider nicht! Oder als Wünsch-dir-was-Politik: Wird schon alles nicht so schlimm werden! In einem Wort: Realitätsverweigerung.“
- Corona: Obgleich die Infektionszahlen höher sind als je zuvor, obwohl die Zahl der Covid-Patienten in Krankenhäusern wieder steigt, obgleich drei Viertel der Kliniken wegen erkranktem Personal nicht mehr im Normalbetrieb arbeiten, obwohl jede Woche mehr als 1.000 Menschen sterben, hat die Ampelkoalition die Aufhebung der meisten Sicherheitsregeln durchgesetzt.
- Klimakatastrophe: Der schockierende Bericht des Weltklimarats vor drei Wochen sollte eigentlich den Letzten die Augen geöffnet haben. „Wir haben nur ein Jahrzehnt, um die CO2-Wende zu schaffen und die Menschen noch vor den größten Risiken des Klimawandels zu schützen“…..Im Klartext: Politik und Wirtschaft müssten jetzt sofort alle Weichen stellen, um die Klimaziele noch zu erreichen. Stattdessen hat das Ukraine-Krisenmanagement die Aufmerksamkeit für den Klimaschutz verdrängt, und Wirtschaftsminister Robert Habeck tütet mit den Scheichs zweifelhafte Erdgas-Deals ein. Realpolitik? Vielleicht. Oder Augen-zu-und-durch-Politik.
Obwohl sich zu jedem Punkt einiges zur Rechtfertigung der hier als „Realitätsverweigerung“ bewerteten Haltung einwenden ließe, spricht mir sein „Rundumschlag“ doch aus der Seele. Vor allem auch deshalb, weil mir bei fast jedem Blick auf irgend ein Detail ähnliche Gedanken kommen.
Gestern war z.B. Weltwassertag. Die zunehmende Trockenheit in Berlin und Brandenburg war aus diesem Grund auch mal Teil der Regionalnachrichten, ganze Ketten kleiner Weiher sind trocken gefallen, trotz regnerischem Winter. Und obwohl seit vielen Jahren bekannt ist, wohin die Reise geht, wird Abwasser von Dächen und Straßen immer noch in Flüsse geleitet, anstatt es in der Landschaft zu halten. Man sollte… ja, aber es passiert nicht!
Wenn ich dann noch daran denke, dass mit der künstlichen „Lausitzer Seenplatte“ 16 verbundene Tagebaue geflutet und zu einer Seenkette (am bekanntesten der „Ostsee“) entwickelt werden, wird mir einfach nur schlecht. Was für eine Ignoranz gegenüber dem Klimawandel, so riesige Verdungstungsflächen zu schaffen – mittels Wasser, das sogar die Trinkwasserversorgung Berlins gefährden könnte. Einfach weil die Flutung für die zur Renaturierung verpflichteten Konzerne am billigsten ist und sich Seen der Öffentlichkeit gut verkaufen lassen (Tourismus! Arbeitsplätze!).
Aber wir haben doch Energiewende? Wenn ich Tweets aus den Niederungen der Praxis lese, kommt mir die Galle hoch:
„Ich lebe in einer Reihenhaussiedlung mit 57 Häusern. Wir haben ein Biogas Blockheizkraftwerk, dass Strom und Warmwasser erzeugt. Zusätzlich würden wir gerne Photovoltaik auf die Häuser mit Pultdächern bringen. Der Genehmigungsprozess ist ein Alptraum. Das muss sich schnell ändern“
„Bei uns genauso, man müsste die Photovoltaik Anlage absichtlich klein(!) dimensionieren um nur den Eigenverbrauch abzudecken. Produziert man Überschuss wird es absurd komplex, die Eigentümer*innen haben das Thema deshalb auf den Sankt Nimmerleinstag vertagt.“
„Bei uns scheitern sämtliche Versuche des örtlichen Energieversorgers, erneuerbare Energiequellen zu nutzen, ausgerechnet am Naturschutz. Hier könnte eine seltene Moosart zu wenig Wasser abbekommen, dort der Lebensraum des grüngesprenkelten Grottenolms um einige Quadratmeter beschnitten werden. Natürlich muss man Rücksicht auf die Natur nehmen. Aber ganz ohne Eingriffe wird es nicht gehen. Und mit dem Klimawandel sind diese Lebensräume langfristig komplett futsch.“
Ein Augen-Öffner in Sachen Bau-Geschehen und Klimawandel ist die aktuelle Sendung aus der Reihe „Leschs Kosmos“: Sackgasse Beton – die Suche nach Alternativen.
„Bis zum Jahr 2060 wird laut Prognosen weltweit doppelt so viel Fläche bebaut sein als heute. Doch schon jetzt verursacht allein die Zement-Produktion viermal so viel CO2 wie der globale Flugverkehr…Baustoffe und Bauarbeiten sind heute für 11 Prozent aller CO2-Emissionen in der Welt verantwortlich.“
Es werden dann sehr interessante Alternativen gezeigt, doch habe ich nicht den Eindruck, dass derlei von der Politik massiv und vor allem zügig unterstützt wird. Es gibt zwar Fördermittel für energie-effizientes Bauen (auch nach dem vorläufigen Habeck-Stopp wird es sie in geänderter Form geben), doch auf die Baustoffe selbst bezieht sich da meines Wissens noch nichts. Und sowieso stellt sich die Frage, ob man heutzutage das „frei stehende Eigenheim“ überhaupt noch fördern sollte. Maximaler Flächenverbrauch für die kleinstmögliche Anzahl Bewohner – passt doch nicht wirklich zur Lage! Aber was für ein Aufschrei, wenn die Grünen das auch deutlich aussprechen!
Wir wollen halt, dass alles so bleibt, wie es ist. Lieber sogar noch, wie es war! Dass es das „alte Normal“ nie wieder geben wird, ist noch lange nicht in den Köpfen angekommen. Und die Politik nimmt eben Rücksicht auf die Wählerschaft – ist normal in einer Demokratie.
Vielleicht ist genau DAS die Herausforderung: Wieviel Demokratie können wir uns auf Dauer leisten, wenn sich die Krisen weiter entwickeln? Wieviel Trägheit, wieviel Ignoranz, wie viel Vertagung und Blick aufs jeweilige Klientel?
Update:
Zum Druckanstieg in der Zwangslage, in die sich Deutschland mit der Maxime „Wohlstand zuerst“ hinein manövriert hat:
Putin verhängt eine „überraschende“ Gegensanktion: Die „unfreundlichen Länder“ sollen Gas etc. nur noch in Rubel zahlen dürfen. Der Rubel steigt bereits. Den Wechselkurs bestimmt dann die russische Zentralbank, weil es auf dem Markt gar nicht genügend Rubel gibt. Die Käuferländer müssten dadurch die eigenen Sanktionen unterlaufen – oder eben aufheben.
Der substanziellste und informativste Artikel dazu stammt von Maurice Höfgen;
- Putins gefährlicher Schachzug – Russisches Gas gibt es bald nur noch gegen Rubel. Was bringt Putin das? Und welche Konsequenzen hat das für uns?
Vom selben Autor noch ein kürzlich erschienender Artikel zu den Folgen eines Lieferstopps – auch sehr detailliert:
- Freiwillige Wirtschaftskrise? Wenn wir kein Gas aus Russland mehr kaufen, dann droht nicht nur Verzicht auf Komfort, sondern eine große Wirtschaftskrise.
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11 Kommentare zu „Deutschland Träumerland: alles soll so bleiben….“.