Mit einem Aggressor, den Großmachtfantasien treiben, ist offensichtlich nicht zu verhandeln. Das ist das eine – das Andere ist diese Getriebenheit in den Reaktionen darauf. Mir wird dieser Tage klarer denn je, wie irrational so ein Kriegsgeschen ist, nicht nur bei den unmittelbar Beteiligten. Sowohl unsere Regierenden als auch wir Bürger/innen werden vom Geschehen getrieben, sofern wir nicht einfach wegschauen, was allerdings fast unmöglich ist.
- Erst heißt es wochenlang, man liefere traditionell keine Waffen in Krisengebiete, also auch jetzt nicht bzw. höchstens ein paar Helme in die Ukraine.
- Dann werden es „Verteidingungswaffen“, Panzerfäuste, Stinger-Raketen – aber keine „schweren“ Waffen, bewahre! Es heißt, wir hätten nichts zu vergeben, nur sehr instandsetzungsbedürftige Panzer, die sowieso kein Ukrainer bedienen könnte. Auch würden wir mit der Lieferung schwerer Waffen für Putin zu Kriegsteilnehmern mit der Gefahr, den Krieg zum 3.Weltkreieg zu eskalieren.
- Weitere Wochen ziehen ins Land und plötzlich heißt es: Ok, wir liefern, aber im „Ringtausch“ nur an Länder, die ihrerseits ihre Panzer an die Ukraine abgeben.
- Und jetzt, nach nochmal einer Woche und vielstimmig formulierter Unzufriedenheit (Presse, CDU, Ukrainer sowieso) also auch direkte Lieferung schwerer Waffen. Die User werden sogar in Deutschland / Rammstein ausgebildet.
Auch mir ging und geht es nicht viel anders. Meine Stimmungen und Meinungen ändern sich, ebenfalls getrieben von den Ereignissen. Noch kürzlich schrieb ich vom plötzlichen „Bellizismus“ etlicher Grüner und Linker, so manche martialische Rede hat mich regelrecht abgestoßen. Andrerseits war mir schon die ganze Zeit über klar, dass die Ukrainer selbstverständlich jedes Recht zur Selbstverteidigung haben – und andere Staaten auch das Recht, sie zu beliefern. Aber müssen wir dabei an vorderster Front stehen? Warum werden WIR so heftig gefordert? Bekommen sie nicht schon massenhaft Kriegsgerät von USA und GB?
Meine eigene Angst ließ mich eher für zurückhaltendes Abwarten stimmen – nicht mutig, nicht standhaft, durchaus kritikwürdig.
Das Lesen des „offenen Briefs“ bekannter Intellektueller hat mir allerdings drastisch vor Augen geführt, wohin diese Denke führt: Ins Abseits! In nicht mehr zu rechtfertigendes Duckmäusertum, verbunden mit kaum bemäntelten Forderungen an die Ukraine, die in der jetzigen Lage geradezu zynisch und unverschämt wirken. Sowas würde ich jetzt auch nicht mehr unterschreiben wollen!
Viele Reaktionen auf diesen Brief erreichten wiederum Tiefpunkte aktueller Debattenkultur, das ist jetzt leider das neue Normal. Aber es gibt auch gute Antworten, besonders heraus ragend der Blogpost von Wolfgang Müller:
Ukraine: Der offene Brief in der “Emma” und warum “Aufrüstung ja oder nein” die falsche Frage ist
Wolfgang schafft es, rationale Argumente und eigene Gefühle so glaubhaft und nachvollziehbar zu verbinden, dass man sich „mitgenommen“ fühlt. Seine Beobachtungen, Argumente und Schlussfolgerungen, versehen mit einer Brise Pathos wirken orientierend, was viele Kommentare bestätigen.
Als Zitat wähle ich ein Stück seiner Analyse unserer bundesdeutschen Befindlichkeit:
„Wir haben uns daran gewöhnt, dass die quälendste Frage lautet, wohin wir wohl dieses Jahr in den Urlaub fliegen und ob wir 2 oder 4 Prozent Wirtschaftswachstum haben. Dass der Tag kommen könnte, an dem man tatsächlich etwas für seine Ideale opfern müsste, für Freiheit, für Selbstbestimmung, kommt uns völlig fremd vor. Fast schon peinlich möchtegern-heroisch. Wir sind den Umgang mit Fanatikern nicht mehr gewohnt, und das macht die Situation so gefährlich. Viele denken, mit einem guten Gespräch und einem dicken Scheckbuch lässt sich eigentlich jedes Problem lösen, mit ausreichend gutem Willen, und können sich nicht mehr vorstellen, dass es Menschen gibt, die tatsächlich weder an Schecks noch an Gesprächen interessiert sind, sondern ausschliesslich an Ideologie, Dominanz und Gewalt. Die keinen Ausgleich wollen, sondern einen totalen Sieg. Mit jemandem, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung der Gegenseite ist, lässt sich schwerlich verhandeln. Und der kann auch nicht mit Zurückhaltung besänftigt werden.“
Ihr solltet aber unbedingt den ganzen Text lesen!
Uns allen wünsche ich, dass uns der Himmel nicht auf den Kopf fällt – und einen guten 1.Mai!
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20 Kommentare zu „Krieg und lauter Getriebene“.