In Berlin ist gerade Funkausstellung. Mir hat es gereicht, vor ein paar Jahren mal dort gewesen zu sein. Zwischen den unzähligen blinkenden Monitorwänden leicht verstört herumlaufen, die teuerste Stereoanlage der Welt anhören, den grinsenden Moderatoren und aufgehübschten Hostessen in die angestrengten Gesichter sehen – und überall Geräte, Geräte, Geräte, in Szene gesetzt wie soeben ausgegrabene Schätze großer Pharaonen. Dazu die seit Jahren sich mantrahaft wiederholenden Beschwörungen: Konvergenz der Technologien, digitales Fernsehen, multifunktionale, alles mit allem vernetzende Steuermodule – Fernbedienungen wählen nicht nur Programme, sondern öffnen auch die Garagentür, schalten den Herd ein – ja wirklich! Und natürlich die noch kleinere und leichtere VideoCam, Kameras mit noch mehr Millionen Pixel, noch bessere DVD- und MP3-Player, der Fortschritt schreitet unaufhaltsam voran – aber gehen wir noch mit?
Kein Hype nirgends
Der Publikumsandrang ist verhalten, die Presse berichtet kritisch: keine wirklichen Innovationen, immer komplizierter bedienbare Geräte, entworfen von Technikfreaks für ihresgleichen. Warum sollte jemand mehrere tausend Mark ausgeben, wenn die vorhandene Technik für ein paar Hunderter das jeweilige Bedürfnis optimal befriedigt? Mein Scanner scannt, mein PC tut, was ich will, die zwei Jahre alte DigiCam macht immer noch bessere Bilder, als ich fürs Web brauche, der Drucker druckt – was brauche ich mehr? Die Gruppe derjenigen, die es ungemein spannend finden, ein neues Gerät zu erforschen, zu besitzen und zu beherrschen, ist einfach nicht groß genug, um den Markt florieren zu lassen. Der Handy-Boom ist lang vorbei, Internet ist mittlerweile normal, kein Hype nirgends, es geht bergab.
Und während die Konzerne allerorten Leute entlassen, überschlagen sich die Politiker mit ihren Konzepten, mehr Druck auf die „faulen Sozialhilfeempfänger“ auszuüben. Eilfertig ruft Frau Merkel eine NEUE soziale Marktwirtschaft aus: mit dem Bürger soll ein Vertrag geschlossen werden, darüber, dass der Staat ihn „fördert, aber auch fordert“. Das ganze Geschehen kommt mir vor, wie ein pervertiertes Fußballspiel. Immer weniger Spieler werden gebraucht, um den Ball ins Tor zu bringen, doch immer mehr Leute werden zu täglichem Training gezwungen, um auf der Ersatzbank auf ihren Einsatz zu warten, der logischerweise immer seltener und unwahrscheinlicher wird. Es gibt ernstzunehmende Berechnungen, daß zwanzig Prozent der heute Beschäftigten in Zukunft genügen werden, um die Weltwirtschaft am Laufen zu halten – was wird der „Rest“ tun? Umschulung und Weiterbildung? Kurse im Stil „Wie schreibe ich eine Bewerbung?“
Der Abschwung, die Konjunkturflaute, die Baisse an den Börsen, das aktuelle Nullwachstum: vielen Leuten ist es schon zu nervig, überhaupt nur Zeitungsartikel mit solchen Worten zu lesen. Was soll man auch machen? Niemand wird mehr kaufen als er braucht, nur um „der Weltwirtschaft aufzuhelfen“. Schadenfreude ist auch nicht angesagt, schließlich ist es unser aller Wohlstand, einschließlich des hoch geschätzten sozialen Netzes, der hier droht, den Bach ‚runter zu gehen.
Alles marktförmig
Alternativen? Gibt es ein Leben jenseits des Weltmarkts? Schon die Frage reicht in der Regel aus, um jemanden als haltlosen Spinner zu outen, heute, so viele Jahre nach dem Zusammenbruch der „großen Alternative“ (auf die wir ja auch vorher schon keinen Bock hatten!). Aber ich frag‘ mich manchmal angesichts ganz konkreter alltäglicher Dinge: Muss denn alles „marktförmig“ ablaufen? Ist es nicht fantasielos, elend und fern der Liebe, dass auch alle Kultur und fortgeschrittene Lebenskunst in Gestalt eines Marktes stattfindet, oder eben gar nicht? Das Internet bot in seinen ersten Jahren ein Erlebnisfeld, wie es sein kann, wenn kein Markt ist: wie Menschen interagieren können, wenn niemand daran denkt, dass es „sich rechnet“. Noch heute „krankt“ der E-Commerce unter der Kultur des Kostenlosen, die noch immer nachwirkt, aber ihre Seele verloren hat: Nicht mehr Geben UND Nehmen ist angesagt, sondern der User ist nicht mehr gleichzeitig Macher/Anbieter und will schlicht alles umsonst.
Es gibt angeblich soviel Fortschritt jenseits der technischen Geräte: Seit Jahrzehnten wird Selbstverwirklichung und Bewußtseinswandel in unzähligen Formen propagiert und in unüberschaubar vielen Kursen, Workshops und auf dem Buchmarkt angeboten. Du hast Lust auf Massage? Willst mal den Mitmensch jenseits von Sex berühren? Kein Problem, die Auswahl ist groß, zehn Abende für DM 350,-. Oder vielleicht mit einem „Erleuchteten“ zusammen sitzen, vielleicht springt ja was über? Da gibts den Einmal-Event „Satsang“ für schlappe 30,- pro Versammlung. Wenn du es natürlich eine Woche lang in Goa/Indien erleben willst, wirds entsprechend teurer. Oder magst du es traditioneller, z.B. Belehrungen des Buddha hören? Beim Darmakaya e.V. immer Donnerstags, zusammen mit hundert Anderen für nur zehn Mark! Alles zu religiös? Dann probier doch mal eine „Familienaufstellung nach Hellinger“, das ist gerade ein echter Renner, nicht billig, aber effektiv!
Wachstumszwang
Was ist Armut? Wenn die Weltwirtschaft mit zwanzig Prozent der Arbeitsfähigen betrieben werden wird, werden die meisten von uns immer „ärmer“ werden, immer weniger besitzen, immer weniger kaufen können, immer ungesicherter leben müssen. Und es sieht ganz so aus, als sei dagegen kein Kraut gewachsen, kein Patentrezept „von oben“ anwendbar. Es herrscht nun mal Wachstumszwang in der Weltwirtschaft, und wenn nichts wächst, weil alle, die bezahlen können, mit Gegenständen ausreichend versorgt sind, dann ist die Krise da.
Was ist das Schlimme an Armut? Ich schrieb die Anführungszeichen, weil es noch lange nicht darum geht, dass uns Nahrung, Kleidung, Wohnung genommen wird. Der Markt braucht sozialen Frieden, deshalb wird diese Grundversorgung für die „übrigen“ 80 Prozent vermutlich noch lange über Steuern und soziale Systeme gewährleistet. Aber das gewisse MEHR, das das Leben eigentlich lebenswert macht: Kultur, Kunst, Spiritualität, die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen – darum werden wir uns zunehmend selber kümmern müssen. Durch geben, schenken, tauschen – ganz ohne Geld, auf jeden Fall jenseits von Profit.
Geht nicht? Oh doch! Im Internet der ersten Jahre hat das sogar ganz großen Spaß gemacht.
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Ein Kommentar zu „Überfluß und Armut“.