Ist es in den Zeiten des Terrors und der Kriegsvorbereitungen überhaupt möglich, über Sex zu schreiben? Das hab‘ ich mich schon gefragt, als mir Willie am 14.September einen Kommentar zu einem älteren Diary-Beitrag (Sex als Dienstleistung) ins Forum postete – und dann doch geantwortet. Welches Thema wäre schon „passend“, um den Horror abzulösen, über den nachzudenken, nachzuspüren, zu reden und zu schreiben leicht zur verzweifelten Endlosschleife geraten kann?
Also Sex, why not! Um eine neue Inspiration zu bekommen, hab‘ ich Lothar gefragt, was er über die Beiträge und Postings denkt. (Update: Linkziel leider verschwunden!) Kurz zusammengefaßt, wirft Lothar „den Frauen“ vor, an der Prostitution mit all ihrem Elend und ihrer Schmuddligkeit schuld zu sein:
„Ist es nicht einfach so, daß es immer wieder eine riesige Anzahl von Männern gibt, die bei Frauen nicht landen können? Warum wollen diese Frauen nicht? (Ich höre schon die zahlreichen Gründe, aber einmal im Ernst:) Steht nicht tatsächlich eine Ablehnung dahinter, und zwar eine einseitige?“
Lothars Text (ganz lesen!) macht es nicht gerade leicht, noch etwas dazu zu sagen, obwohl jeder einzelne Satz Gefühle und Gedanken auslöst. Ich fühle mich eher hilflos angesichts dieser Vermischung verschiedenster Behauptungen und Zuschreibungen („Geld stinkt“, „richtig männliche Verstandespolemik“), die schon jede für sich genommen ein längeres Eingehen erfordern würde. Hinzu kommen abstrahierende Verallgemeinerungen („die Frauen“, „die Männer“), die das Antworten erschweren, solange man keine Lust hat, einen akademischen Wälzer mit umfangreichem Fußnotenapparat zu verfassen. Und dann noch diese feindselig wirkenden Gesprächsfallen: „Ich höre schon die zahlreichen Gründe, aber einmal im Ernst…“ – das bedeutet doch schlicht: Ich will sie NICHT mehr hören, kommt mir jetzt bloß nicht mit Gründen! Die nehm‘ ich sowieso nicht ernst! – Ja was denn dann?
Ich brauche Lothar eigentlich nur weiter zu zitieren: „Freundschaft ist gefragt und ein Umgang, der aus dem Herzen kommt.“ Genau! Bedauerlicherweise sind wir aber – Männer wie Frauen – zur Freundschaft allermeist erst in der zweiten Lebenshälfte in der Lage, erst dann wird „der Andere“ zum Geschenk, zum Wunder, dem man nicht mit einer egozentrischen Anspruchshaltung begegnet, sondern im Geist liebevoller Großzügigkeit und Gelassenheit.
Wie aber wird Freundschaft möglich? Gibt es das überhaupt zwischen Männern und Frauen? Für mich ist eine Voraussetzung, daß ich dem Anderen frei und auf gleicher Augenhöhe begegnen kann, sozusagen „im aufrechten Gang“. Das funktioniert nicht, wenn ich Frustrationen und Verletzungen aus der Vergangenheit mit mir herumtrage, wenn angesammelte Vorwürfe und unterdrückte Wut das Zusammensein unterschwellig einfärben, weil ich jeden Mann für sein SO-Sein persönlich verantwortlich mache.
Um das zu vermeiden ist es recht hilfreich, Denkweisen zu pflegen, die die typischen Unverträglichkeiten zwischen Mann und Frau in Bezug auf Sex nicht dem Einzelnen als Schuld zurechnen, sondern sie als Erbe natürlicher und kultureller Evolution beschreiben, das wir nicht einfach per Beschluß verabschieden können. Soll ich mich zum Beispiel bis an mein Lebensende darüber aufregen, daß eine Frau mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr noch immer als Schlampe gilt, wogegen Mann nach wie vor bei entsprechenden Erfolgen (nur beim Mann heißt das „Erfolge“!) als toller Hecht durchgeht? Nein, will ich nicht, also erkläre ich mir dieses „ungerechte“ Verhalten einfach biologisch, bzw. urzeitlich-patriarchalisch: Mann will und muß seinen Samen weitestmöglich verteilen, um optimale Fortpflanzungschancen zu haben, wobei er noch nicht einmal erkennen kann, ob es auch geklappt hat. Seiner Vaterschaft kann er nur halbwegs sicher sein, wenn er andere Männer von seiner Frau bzw. seinem Harem fern hält, also ein „Besitzverhältnis“ an der Frau verteidigt. Jahrhunderttausende war das so, kein Wunder also, wenn auch nach 1968 und trotz der Frauenbewegung noch ‚was davon weiter wirkt.
Was Lothar als die Hauptverletzung beschreibt („Warum wollen diese Frauen nicht?“), das hat auf weiblicher Seite eine leidige Entsprechung, nämlich das sattsam bekannte: Er will ja immer nur das Eine… (Mal abgesehen davon, dass sie, wenn sie immer wollte, schnell in die Kategorie ‚Schlampe‘ fallen würde. „Leicht zu haben“ ist nun mal kein Kompliment!) Die Erfahrung, allein aufgrund äußerer körperlicher Reize (Busen, Hintern, Sanduhrfigur) zum Objekt männlicher Begierden zu werden, ist für junge Frauen nicht allzu berückend. Zumindest in fortgeschrittenem Alter, wenn der Testosteron-Stress nachgelassen hat, müßten das auch Männer verstehen können.
Ich kann mich gut erinnern, daß ich in dieser Hinsicht sehr mißtrauisch war: Meint er nun „nur“ meine Optik oder will er MICH? Für meine körperlichen Formen konnte ich wenig, da fühlte ich mich also auch am allerwenigsten als Person, als Individuum, als ICH, Claudia. Als diese wollte ich aber geliebt und begehrt werden, nicht lediglich als Eigentümerin einer Ressource, die der Andere dringlich benötigt. Mit den Jahren hat sich das dann verändert: Mein Körper ist heute kein unbeschriebenes Blatt mehr, sondern trägt die Spuren eines konkret gelebten Lebens, ist also insofern viel mehr „Ich“ als je zuvor. Andererseits ist mir klar geworden, dass Sexualität weiß Gott nichts „Persönliches“ ist, sondern eine Urkraft, die uns durchströmt und der wir gelegentlich auch ausgeliefert sind. Das bloße Auftreten sexueller Gefühle, das Begehren und Begehrt-Werden ganz persönlich zu nehmen, ist gerade falsch: Im Sex begegnen sich Gottheiten, keine Individuen, und wenn wir es nicht schaffen, unsere Vordergrund-Persona dabei abzulegen, wird es eh‘ nix.
Zum Schluß: Dass das weibliche Verlangen ein bißchen anders gestrickt ist als das männliche, macht die Sache nicht leichter. Frauen fahren eher auf Atmosphäre ab, schätzen Romantik, ziehen erotische Texte Bildern vor und im konkreten Kontakt muß vor allem „die Beziehung stimmen“. Genau das wird aber immer unwahrscheinlicher, je mehr Beziehung vorhanden ist. Da gibt es jede Menge Alltagskonflikte und je jünger (bzw. unbewußter) man ist, desto eher macht man den Anderen und nicht sich selbst für das je eigene Glück oder Unglück verantwortlich – nicht nur als Frau! Und mit dem Grund meines aktuellen Unglücks geh‘ ich doch nicht ins Bett…
Was wirklich schlimm ist: Für die erotische Begegnung der Geschlechter gibt es in unserer Kultur nur sehr schräge und verzerrte Vorbilder. Der Pornomarkt, die Werbung und das ganze Konsum-Geschehen verbreitet einen ungeheuren Leistungsstress und leitet jede und jeden dazu an, sich selbst als Ware zu betrachten und auch so miteinander umzugehen. Auf der anderen Seite wird noch immer die romantische Geschichte von der großen Liebe mit der ewigen sexuellen Treue erzählt, millionenfach als Lesestoff, Schlagertext und TV-Soap wieder aufbereitet und offenbar immer wieder gern geglaubt und gern gekauft. In der Realität findet die „Erweiterung der Kampfzone“ (Houellebecq) statt, und in den Köpfen spukt Hedwig-Courths-Maler! Arme Welt, wie soll da Bewußtheit wachsen, wie kann Erotik „auf gleicher Augenhöhe“ entstehen, wie ist Freundschaft zwischen Männern und Frauen lebbar jenseits von rosafarbenen Illusionen und tödlich ernstem Geschlechterkampf?
Wie schön, daß es das gelegentlich doch gibt. Vielleicht würde mir da auch Lothar zustimmen. Sonst wär‘ die Welt nämlich sicher schon unter gegangen. :-)
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