Niemals jammern und klagen – diese unausgesprochene Vorgabe steht immer schon über diesem Webdiary. Und das nicht nur, weil ich mich natürlich gern von meiner besten, also STARKEN Seite zeige, sondern weil mir kaum je im Leben Texte begegneten, mit denen ein Autor oder eine Autorin es vermocht hätte, auf unterhaltsame Art zu jammern und zu klagen. (Und sag‘ mir jetzt keiner, Unterhaltung müsse ja nicht sein, wir hätten doch schon übergenug Spaßgesellschaft: So schnell, wie du wegklickst, wenn ich hier langweile, kommst du garnicht erst in die Lage, so einen Gedanken überhaupt zu fassen!)
Ein weiterer Grund, alles Lamentieren über das eigene Befinden lieber bei sich zu behalten, ist der sich sofort aufdrängende Vergleich: Die Kinder in Afghanistan, zum Beispiel. Und immer und zu jedem Zeitpunkt ist die Welt voll von solchen Beispielen, die mich zum Verstummen bringen oder gar meinen Schreibimpuls um 180 Grad drehen, so daß allenfalls eine Lobrede entstehen will, eine Hymne der Dankbarkeit auf den (unverdienten) paradiesischen Zustand, in dem wir alle leben – und auch das geht eigentlich nicht, verdammt nochmal!
Warum überhaupt schreiben? Warum nicht einfach schweigen, wenn die Inhalte in den Filtern hängen bleiben, die für dieses Diary gelten? Tu ich ja, tu ich oft genug, doch hat das seine Grenzen, will ich diese einmal geschaffene und jahrelang verfestigte Form der Selbstveröffentlichung nicht beschädigen. Und das werd‘ ich nicht, ist es doch eine der wenigen festen Strukturen, die mein ach-so-befreites und flexibles Leben begleiten und durch das bloße „immer-wieder-so“ stützen!
Im Lauf der Jahre hab‘ ich zu meinem Erstaunen festgestellt, daß Routinen etwas Hilfreiches, ja, Rettendes sind: Zum Beispiel ein Arbeitstag im Büro mit festen Uhrzeiten, wiederkehrende Pflichttermine am Abend aus irgendwelchen Mitgliedschaften. Auch simple Volkshochschulkurse und andere Just-for-Fun-Gewohnheiten – „immer Sonntags Tatort gucken“ – entfalten ihre stützende Kraft, sobald man sich mies fühlt, sobald ich mich der Frage „Was jetzt?“ einfach nicht mehr stellen will oder kann (und das ist im Grunde kein Unterschied, wenn man mal genau hinguckt!). Klar, auch in meinem Leben gibt es ein paar solcher Stützroutinen, aber die meisten davon sind „prekär“, sind freiwillig, können täglich wegfallen, um ihre Aufrechterhaltung muß ich mich bemühen. Dabei vermisse ich zunehmend „unfreiwillige“ zementierte Strukturen, solche, die es zumindest möglich machen, in stupide Bewußtlosigkeit zu versacken und einfach nur zu funktionieren. Also genau das, wovon ich mich die meiste Zeit meines Lebens befreien, bzw. gar nicht erst hinein verstricken wollte! Ist das nicht pervers?
Heute beneide ich in dunklen Stunden Menschen, die ein sogenanntes „normales Leben“ führen, bzw. das, was ich immer dafür gehalten habe und gemieden, wie der Teufel das Weihwasser: Um dreißig geheiratet, zwei Kinder, ordentlicher Beruf mit geregelten Arbeitszeiten und festem Einkommen, ein Haus und rundrum ein kleiner Garten, zum Nachbarn hin die blickdichte Hecke, in der Garage das Drittauto, die Bude vollgestellt mit materiellem Besitz, die Papier- und Behördenexistenz verplant und abgesichert bis zum Lebensende – und zweimal im Jahr die Fernreise ins große Anderwo bei garantiertem heimischen Standard.
Es ist nun aber nichts mehr übrig geblieben, wodurch ich die Tendenz zum Lästern, wie sie im letzten Absatz entgegen der Aussage durchschlägt, rechtfertigen könnte oder wollte. Heute kenne ich genug Menschen, die ein solches „normales Leben“ führen, um zu wissen, daß sie ebenso viel bzw. wenig Anlaß zum Unglücklichsein haben wie ich in meiner manchmal angst-machenden „Freiheit“. Und nichts von dem, was und wie ich geworden bin, indem ich mich gegen all das wehrte, kann ich mir irgendwie selber zuschreiben: War es doch nur eine Reaktion auf die Katastrophe des persönlichen familiären Lebens, wie sie mir als Kind begegnet und deshalb zum Point of Never-to-Do geworden ist.
So, bevor ich nun hier ernsthaft zu langweilen beginne, indem ich meine Herbstdepression im Detaille ausbreite, schließe ich lieber mit ein paar Zitaten des großen Cioran, den an Negativität bei gleichzeitig hohem Unterhaltungswert keiner je übertreffen wird:
„Man kann die Fehler seiner Mitmenschen nicht vermeiden, ohne eben deswegen auch ihre Tugenden zu fliehen. So richtet man sich durch Weisheit zugrunde.“
„Mit zunehmendem Alter vermindern sich nicht so sehr unsere intellektuellen Fähigkeiten, als vielmehr jene Kraft zu verzweifeln, deren Charme und deren Lächerlichkeit wir in unserer Jugend nicht zu schätzen wußten.“
„Wie alle Bildstürmer habe ich meine Götzenbilder nur deshalb zerschlagen, um mich vor ihren Scherben hinzuknien.“
„Als entschlossener Wundertäter erhebt man sich, um seine Tage mit Mirakeln zu bevölkern, und dann sinkt man auf sein Bett, um bis zum Abend Liebeskummer und Geldsorgen wiederzukäuen…“
„Ein Mönch und ein Metzger streiten sich im Innern einer jeden Lust.“
„Die glanzvollen Taten sind das Vorrecht der Völker, denen das Vergnügen, lange bei Tisch zu sitzen, fremd und deshalb die Poesie der Nachspeise unbekannt ist.“
„Im selben Maße, wie wir unsere Schandflecken tilgen, werfen wir unsere Masken ab. Es kommt der Tag, da unser Spiel stehen bleibt. Keine Schandflecken mehr, also auch keine Masken mehr. Und kein Publikum mehr – wir haben unsere Geheimnisse, die Lebenskraft unserer Miseren, überschätzt.“
Alle Zitate aus: E.M.Cioran, Syllogismen der Bitterkeit
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Ein Kommentar zu „Herbstdepression“.