Claudia am 20. Januar 2023 —

Atmen per App

Seit einer Woche gehe ich jeden zweiten Tag spazieren, „zügig gehend“, wie es zur Gesundheitserhaltung empfohlen wird. Es sind immer ca. fünf Kilometer, für die ich eine gute Stunde brauche. Heute ist eigentlich wieder so ein „zweiter Tag“, aber draußen ist es ekelhaft kalt, feucht und womöglich etwas glatt – mal sehen, ob ich mich überwinden kann, später vielleicht.. :-)

Weil es langweilig wäre, immer diesselbe Strecke zu gehen, plane ich verschiedene „Runden“ mit dem Google-Routenplaner. Google ist erstaunlich genau im Schätzen der erforderlichen Zeit, wahlweise für Autos, ÖPNV, Fahrrad und zu Fuß. Ein wenig länger brauche ich schon, aber nur wenig, bin ja keine geübte Walkerin, es strengt mich durchaus an.

Einige Wege sind gesäumt von Plakatwänden, meist Konzerte, Veranstaltungen, Werbung – und letztens fand ich dann dieses Plakat:

Gehmeditation

„Zwischen Tausenden hindurch schlängeln“ nennen sie also „Gehmeditation“ und fordern dazu auf, mit ihnen zu atmen. Wer sind sie? Und was für ein seltsames Verständnis von Gehmeditation offenbart sich hier? Diese meditative Praxis wird während ZEN-buddhistischer Meditationsretreats ausgeführt: Extrem langsames Gehen mit voller Konzentration auf die Sinneserfahrung, das Aufsetzen und Abrollen der Füße, das Körpergefühl, die Balance… Neuerdings wird Gehmeditation als Achtsamkeitsübung empfohlen und soll „Ängste reduzieren, bei Depression helfen, die funktionelle Fitness verbessern, das Gleichgewicht trainieren und bei Typ-2-Diabetikern den Blutzuckerspiegel, den Cortisolspiegel und den Langzeitwert des Blutzuckergedächtnisses (HbA1c-Wert) merklich verringern“.

Sich zwischen Tausenden hindurchschlängeln ist garantiert keine Methode, die erforderliche Konzentration auf das eigene sinnliche Erleben zu fördern. Ganz im Gegenteil muss die Aufmerksamkeit nach außen gerichtet sein, um niemanden anzurempeln. Wenn das „mit uns atmen“ genauso punktgenau daneben geht, mag ich gar nicht an die Folgen denken!

Nun ja, von Werbung darf man halt nichts Sinnvolles erwarten, denke ich mir. Aber für was wird hier eigentlich geworben? Wieder zuhause angekommen, löse ich das Rätsel, ganz wie sich das die Werbetreibenden sicher wünschen: Calm ist eine App – und offenbar eine recht erfolgreiche, zumindest was die Nutzerzahlen angeht:

„We’re the #1 app for Sleep, Meditation and Relaxation, with over 100 million downloads and over 1.5M+ 5-star reviews. We’re honored to be an Apple BEST OF 2018 award winner, Apple’s App of the Year 2017, Google Play Editor’s Choice 2018, and to be named by the Center for Humane Technology as „the world’s happiest app“.

Wow, ich habe „die glücklichste App der Welt“ entdeckt! Für den kostenlosen Test muss man bereits eine Menge Fragen beantworten, angeblich, um die App zu personalisieren. Es endet mit dem Abgeben von Daten, „einfach so“ ist da nichts möglich. Meine Neugier reicht allerdings nicht soweit, ich verzichte auf den Test, der ja bereits mit einem recht umfangreichen Profil meiner Seelenlage verbunden wäre. (Die „Privacy Policy“ / Datenschutzbestimmungen stammen direkt aus der Hölle!). Immerhin lese ich noch die Rezension bei FitforFun und erfahre, wie toll sich damit meditieren lässt, wie beruhigend die Einschlafgeschichten sind und dass man sich ans Meditieren und Schlafen per App erinnern lassen kann. Wie schön! Ohne App könnte das Schlafen glatt in Vergessenheit geraten – vielleicht auch das Atmen?

Obwohl ich mit meinen diversen Versuchen, regelmäßig zu meditieren, immer wieder scheitere und „Medical Detectives“ sicher nicht die gesündesten Einschlafgeschichten bringt (klappt aber gut!), verlockt mich die App nicht. Manche Dinge will ich alleine schaffen oder eben nicht, soviel Eigenleben muss schon noch sein!

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Diskussion

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4 Kommentare zu „Atmen per App“.

  1. Regelmäßig längere Zeit gehen ist eine der gesündesten Aktivitäten.
    Dazu bedarf es keiner App.
    Seit etwa 3 Wochen bin ich wieder öfters unterwegs und merke an der größeren Geschmeidigkeit und Leichtigkeit des Gehens ein angenehmes Plus.
    Allerdings mache ich das nicht wie vor 15 Jahren sehr stringend und penibel, sondern lasse Gehen einfach mehr Anteil haben am Leben.

  2. @Gerhard: Auch ich gehe ohne App – der Artikel ist lediglich inspiriert von einer Plakatwerbung ÜBER eine App, die (vermeintlich) Meditation und Entspannung lehren will…

  3. Ja, einfach rausgehen: und vor allem bei Mistwetter. Denn dann ist niemand unterwegs, keine „nur mal spielen wollenden“ Hunde (vor allem die neuen, coronabedingt und sehr oft unbedacht angeschafften). Klar, man muss danach über alle Kleidungsstücke mit mindestens der Kleiderbürste (ja, ich stamme aus dem letzten Jahrhundert) drüber, aber man kriegt den Kopf frei, manche beschissene Situation sieht dann schon besser aus. Und zum Thema App: ich hab in den letzten Tagen mal meine Apps nach Bildschirmzeit ausgewertet. Allein in diesen ersten Wochen komme ich auf unglaubliche Stundenwerte, die ich mit bestimmten Apps verbringen durfte… Und würde es gerne reduzieren, am besten auf 0 bringen, wobei das teils nicht so recht geht, da bestimmte Messenger als Notfallkontaktmöglichkeit für Familie und mich da sind, na zumindest in der Theorie…)
    Gehen ist zudem auch prima um abzunehmen, da man in dem Bereich bleibt, in dem der Körper Fett verbrennt (aerob oder anaerob, ich weiß es nicht mehr), weil man eben nicht zu schnell ist und die Herzfrequenz nicht zu hoch ist, wie beim Joggen oder so – und man eben länger als ein paar Minuten unterwegs ist und der Körper überhaupt in den Modus umschwenkt Fett zu verbrennen… Na ja, theoretisch.

  4. @Holger: volle Zustimmung! Bin immer noch dabei, das regelmäßige Gehen in meinem Alltag zu etablieren, das Vorhaben „jeden 2.Tag“ schaffe ich fast perfekt. Und schon nach 14 Tagen bemerke ich positive Veränderungen: ein viel besseres Körpergefühl, etwas abgenommen – und das Gehen wird leichter, anfänglich hab ich gelitten (Rücken, Atmen..), das ist jetzt weg!