Ablenkung gefällig? Land-Idylle im Country Life Vlog

Wie ohne Strom auf beeindruckend altertümliche Weise gekocht und gewirtschaftet wird, zeigt der Youtube-Kanal „Country Life Vlog“ aus einem kleinen Dorf in Aserbaidschan. Wir sehen die „alte Art, grüne Bohnen ein Jahr haltbar zu machen“ und erleben, wie „die besten Chicken Pies im Dorfstil“ entstehen oder „Hausgemachter Fliedersirup“ produziert wird.

Die Videos werden nicht erläutert, fast nie wird gesprochen, man hört nur die Geräusche der jeweiligen Arbeiten und Tierlaute aus der Umgebung.

Im Kanal-Info heißt es:

„As a Country Life Vlog, we love to share what we do at countryside, engage with nature and make the most out of village life. Come and see the colorful videos of nature, unique cooking recipes and just the beautiful life at a countryside. Sit back and relax by watching our content!“

Kurzum: Die Videos sind Balsam für die gestresste Städter-Seele – und offensichtlich sind sich die Macher/innen dessen wohl bewusst! Nichts fehlt, was in den Träumen vom entschleunigten Land-Idyll eine Rolle spielt: Schafe, Kühe, Hunde und ihre Welpen, eine Katze, die sich in der Sonne räkelt, Hühner und Gänse, ein Hahn wie aus dem Bilderbuch und ein wunderschöner Puter, der gelegentlich durch die Szene stolziert.

Am offenen Feuer und mittels „antiker“ Holz-Öfen werden traditionelle Gerichte gekocht und gebacken, man sieht, wie geerntet, getrocknet, eingemacht und eingelegt wird – und immer wieder schwenkt die Kamera auf Blumen, die an jeder freien Ecke wachsen. Im Winter wird das Ganze zum Schnee-Idyll, in dem das Werkeln und Schaffen dennoch nie aufzuhören scheint.

Aufgefallen ist mir, dass der Vorgang des Feuer Anzündens garantiert nicht so verläuft, wie es gezeigt wird: An recht große Holzscheite wird ein Streichholz gehalten, dann folgt ein Schnitt auf irgend eine idyllische Ansicht. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Scheite so ganz gewiss nicht anbrennen werden! :-) Mag sein, dass sie in Wirklichkeit Brennpaste drüber schütten, was ja zur gezeigten Archaik nicht passen würde. Sei’s drum, die Videos sind wunderschön gemacht und wirken maximal entspannend!

Schaut man mehrere Videos, kennt man langsam alle Tiere und sieht, dass die Dorfbewohner auch neue Gebäude errichten, sehr schöne Konstruktionen aus Holz. Elektrische Werkzeuge kommen natürlich nicht vor.

Das Country Life Vlog ist im übrigen unglaublich erfolgreich. Der Kanal hat 5,05 Millionen Abonnenten und sehr aktive Zuschauer. Das neueste Video „Dorfgeheimnis für perfekte Mini-Kartoffelpasteten enthüllt!“ wurde vor 19 Stunden hochgeladen und hat bereits 407.754 Aufrufe, sowie knapp 25.000 Likes. Davon können viele Influenzerinnen hierzulande nur träumen!

Wer macht das Country Life Vlog?

Auf einer aserbaidschanischen News-Seite wird berichtet: „Leben im Dorf. Einwohner von Gusar teilen köstliche Essensrezepte“ (von Google übersetzt):

„Die Dorfbewohnerin Aziza Ramikhanova und ihr Sohn Amiraslan haben die Aufmerksamkeit von Millionen von Zuschauern in sozialen Netzwerken auf sich gezogen. Ihre gemütlichen und beruhigenden Essensrezepte haben niemanden gleichgültig gelassen. Amiraslan Ramikhanov ist ein professioneller Koch, der in einem der Restaurants in Baku gearbeitet hat. Aufgrund einer Pandemie kehrte Amiraslan in sein Heimatdorf zurück und hielt sich nicht von seinem Lieblingsberuf fern. Zusammen mit seiner Mutter begeisterte er weiterhin Feinschmecker mit verschiedenen Essensrezepten über seinen Youtube-Kanal. Aziza Ramikhanova ist auch eine unglaublich talentierte Köchin. Ihre köstlichen Rezepte sind bei allen Hochzeiten im Dorf Hil äußerst beliebt. Die Ramikhanovs drehen ihre kulinarischen Videos normalerweise auf ihrem Ackerland in der Nähe ihres Dorfes. Auf dem Gelände wurde ein charmantes Haus gebaut, um den Drehprozess noch spannender zu machen.,,Die Videos werden von Amiraslan Ramikhanov selbst gedreht und bearbeitet.“

Ich hab mir schon gedacht, dass diese Leute nicht wirklich in der gezeigten Gartenhütte leben. Ort des Geschehens ist das Dorf Hil in der Region Gusar, die von „Lezgis“, einer nordostkaukasischen ethnischen Gruppe bewohnt wird. Auf einer aserbeidschanischen Tourismus-Seite wird das Dorf als Reiseziel beworben:

„Im Dorf Hil in der Region Gusar können Sie die alte und reiche Kultur der gastfreundlichen Lezgi entdecken. Die Bewohner dieses Dorfes, das im Herzen der Berge liegt, bewahren sorgfältig ihre ausgeprägte Kultur und Lebensweise. Eine der schönsten alten Traditionen ist Mel, eine Art kollektiver unbezahlter Arbeit ähnlich dem Subbotnik. Nachdem Sie die interessanten und farbenfrohen lokalen Bräuche kennengelernt, lokale Melodien gehört und traditionelle Lezgi-Gerichte in einem Dorfhaus probiert haben, werden Sie sich weniger wie ein Gast und eher wie ein Einheimischer fühlen!“

Wieviel Geld wird da verdient?

Schaut man mal, wie ertragreich das Country Life Vlog ist, kommt offenbar ganz schon was zusammen! Auf Social-blade.com wird ein monatlicher Verdienst von €10.5K bis €168.1K geschätzt. Ganz ordentlich! Ich vermute (hoffe!), dass das ganze Dorf etwas davon hat, ganz im Sinne des „Mel“, der Gemeinschaftsarbeit, die hier geleistet wird. Zur Moderniesierung, insbesondere Elektrifizierung der schweren Arbeit wird der Geldsegen offensichtlich nicht genutzt. Einerseits seltsam, andrerseits verständlich, denn die gezeigte Idylle wäre dann ja keine mehr.

Der Kanal macht mir Freude, er lenkt gut ab vom unerfreulichen Weltgeschehen. Ich gönne ihnen jeden Cent!  Im übrigen ist das Youtube-gestützte Dorfleben mal wieder eine richtig positive Auswirkung des Internets, das diesen kleinbäuerlich lebenden Menschen die Erhaltung ihrer traditionellen Wirtschaftsweise ermöglicht – einigermaßen fern vom Stress des modernen Lebensstils.

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