Claudia am 20. Oktober 2009 —

Der Abenteuer-Modus

Kürzlich zappte ich in eine Doku-Sendung, in der das Elend eines Spielsüchtigen gezeigt wurde: ein Familienvater, der alles Geld verspielte, in die Beschaffungskriminalität abglitt, zeitweise in den Knast und dann wieder auf Entzug und in Therapie ging.

Man sah ihn dann nach so einer Therapie-Phase, wie er wieder mit den Kindern spielte, kochte und Stein und Bein schwor, nie wieder in den alten Status zu verfallen. Und die Frau sagte zum Interviewer: Ich kann gar nicht mehr begreifen, wie ich sein Doppelleben so lange übersehen konnte!

Durch insistierende Nachfragen kam heraus, dass die Frau durchaus bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmt. Doch auf ihre Fragen wurde der Mann ruppig und aggressiv, woraufhin sie sich „in ihre eigene Welt zurück zog“ und weiteres Bohren unterließ.

Warum ich das erzähle? Beide Personen in diesem Drama eignen sich gut, die menschliche Sehnsucht nach dem Abenteuer bei gleichzeitiger Angst davor zu thematisieren: Der Mann verfiel der Spielsucht, weil er „sich von der Arbeit ablenken“ wollte, die ihn nicht ausfüllte, aber ohne Ende in Stress versetzte. Er riskierte nicht etwa die Suche nach einer neuen Arbeit oder konfliktreiche Bemühungen um deren Veränderung, sondern suchte den vermissten „Kick“ im Leben an den Spielautomaten. Die Frau scheute die Auseinandersetzung, weil sie Angst davor hatte, dass das ganze Konstrukt „heile Familie“, das einzig noch in ihrem Kopf existierte, auseinander brechen würde. Sie fürchtete, verlassen zu werden (obwohl sie lange verlassen worden war!) und ihr Leben in eigener Verantwortung ändern zu müssen. Beide schlossen die Augen vor der Realität, wodurch sich die Probleme zur Katastrophe aufschaukeln konnten.

In der TV-Doku wurden diese Ursachen selbstredend NICHT angesprochen: die Sucht war einfach Krankheit, ein Unglück, das Menschen leider zustößt – und die Reha-Situation am Ende (sorgender Familienvater beim Kuchenbacken) wurde als Heilung und Lösung betrachtet, die – toi toi toi!- hoffentlich anhalten werde.

Es wird NICHT anhalten. Denn nichts hat sich geändert, man versucht nur, wieder in den gesellschaftskompatiblen Lebensstil VOR der Katastrophe zu gelangen. Sobald die schlimmen Erinnerungen verblassen, wird die Suche nach dem Abenteuer den Mann in einen Rückfall treiben und die Frau wird aufs Neue schweigen, hoffen und bangen…

Wir alle wollen, dass das Leben auf irgend einer Ebene spannend ist, dass unser Tun Bedeutung hat und sich nicht in bloßen Routinen und Gewohnheiten, Sachzwängen und ökonomischen Notwendigkeiten erschöpft. Wer sich ein Leben aufbaut, dass nur noch „weiter funktionieren“ als Perspektive bietet und alle Risiken meidet, die im Versuch, das zu ändern liegen, dessen Unbewusstes übernimmt irgendwann die Steuerung. Sucht, psychische und physische Krankheiten oder gar Unfälle ereignen sich und machen dem faulen Frieden früher oder später den Garaus.

Es hilft nichts: wir müssen jeder selbst einen bewussten Weg in den „Abenteuer-Modus“ suchen und finden. Eine Ebene des Handelns, auf der wir uns mit ganzer Kraft einsetzen für Dinge, die uns wirklich wichtig sind. Das kann sich mehr im Äußeren, in der Welt des arbeitenden Engagements abspielen, oder mittels einer forcierten Innenschau auf der Suche nach den Abenteuern des Bewusstseins – darauf verzichten und „nur noch funktionieren“ führt nirgendwohin bzw. direkt in die persönliche Katastrophe.

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Diskussion

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27 Kommentare zu „Der Abenteuer-Modus“.

  1. In meiner Umgebung sehe ich viele Menschen, die den höchsten Gang eingelegt haben und ständig mit dem Funktionieren beschäftigt sind. Das endet nicht immer mit einer Katastrophe – aber mit einem Leben, bei dem sich mir manchmal vom Zuschauen der Magen krümmt. Es ist so anstrengend und so streßig. Aber anscheinend attraktiver als ein Leben im Abenteuer-Modus. Sonst würden es doch nicht so viele tun?

  2. Ja! Ein guter Artikel zu einem wichtigen Thema.

    Nur eine Sache: Das Abenteuer muss beides gleichzeitig umfassen, Inneres und Äußeres. Da gibts kein entweder-oder.

    Grüße!

  3. Ich sehe das im Moment eher so, dass zuerst das Innere kommt, also die Einstellung, das (er-)finden von uns selbst. Ist das in einer gefestigten Position in uns, dann erschließt sich das Äußere danach zwangsläufig. Ohne innere Festigkeit keine Nachhaltigkeit.

  4. Habt Dank für Eure Kommentare! Bei solchen Themen weiß ich das ganz besonders zu schätzen.

    @Sammelmappe: Ich denke, man sieht es den Menschen nicht unbedingt von außen an, ob sie im „Abenteuer-Modus“ agieren oder „nur funktionieren“. Jedenfalls neige ich dann gelegentlich dazu, das eigene Empfinden zu projizieren: „dieser Stress kann doch nicht gut sein!“ Es kann aber sein, dass dieser Mensch sich gerade SO auf seine ureigene Weise verwirklicht. Ich kenne etliche, die wirbeln von früh bis spät, gehen in ihrem Tun auf und haben dabei ein großes „Sinngefühl“.

    @Götz: aber nicht jeder muss sozusagen „bewusst bewusst“ agieren – eine bessere Formulierung fällt mir grad nicht ein aber vielleicht verstehst du ja, was ich meine. Ich denk mal, Christopher Columbus war auch im Abenteuermodus, selbst wenn er sich um sein Innenleben nie explizit Gedanken gemacht haben sollte. Oder die Leute, die heute ein spannendes neuartiges „StartUp“ im Web gründen. Aber auch, wer plötzlich seinen Arbeitsplatz verliert, ist plötzlich raus aus dem „Funktionieren“ und muss sich neu erfinden – auch DAS ist „Abenteuermodus“, sofern die Herausforderung angenommen wird.

    @Menachem: dich verstehe ich nicht wirklich. Für mich entwickelt sich Inneres und Äußeres miteinander, quasi interaktiv. Wenn ich neue Erfahrungen mache, ändert sich damit auch meine Sicht der Dinge und u.U. meine Motivation, so oder anders zu handeln. Und auch meine innere Zufriedenheit, das Streben, der Ehrgeiz (falls vorhanden) etc. kann durch neue Erfahrungen und Einsichten eine andere Richtung bekommen.
    Und wenn ich dann fest halte an dem, was früher stimmte, heute aber nicht mehr, agiere ich vielleicht „nachhaltig“, falle aber psychisch-persönlich heraus aus dem „Abenteuermodus“ und beginne, „nur zu funktionieren“.

  5. Gute Feststellung (dass die „Heilung“ nur der Dramaturgie der TV-Doku geschuldet ist und nichts mit der Realität zu tun hat). Ebenso und teilweise noch viel schlimmer „gut“ geht es bei all den Schuldenfallen- und Supernanny-Geschichten aus. Die Botschaft an die Zuschauer soll halt „da kann man was machen“ lauten. Misanthropische Wahrheiten, die Probleme nicht isolieren, darf im TV wohl nur ein Dr. House loslassen, im speziellen dramaturgischen Milieu seiner Serie. Immerhin das ;-)
    So, und jetzt hol ich noch meinen 6jährigen, der gerade Ferien hat, und lasse ihn die Spam-Schutz-Aufgabe lösen, damit dieser Kommentar lesbar wird …

  6. So wie der Fernsehbericht verknappt, so sollte man allerdings das wenig gesehene in einer Bewertung nicht auch verknappen. Ich meine, daß jeder Sucht ein individuelles System im Leben des süchtigen zugrunde liegt, daß es in der Tat zu entschlüsseln und „anzugehen“ gilt. Damit der Süchtige in ein Leben geführt werden kann, in dem der Mensch wieder selber über die Felder seines Lebens bestimmt und nicht die Sucht das übernimmt.

    Die von Dir skizzierten Lebensdinge soll dieser Verallgemeinerung von mir keinen Abbruch tun, ich möchte nur bedenken, daß man eine (richtige) Lebensweißheit nicht auf alle Süchtfälle anwenden kann und somit auch nicht pauschal in der Bewertung des im Film gezeigten Fall.

    Wir leben allerdings in der Tat in einer Repariergesellschaft. Wir doktorn gerne am Symptom herum, wenn die Maschine danach erst mal wieder los tuckert, bekommt sie ein „Gesund“-Stempel und gut ist. Ist es freilich nicht. Die Ursachen liegen tiefer im genannten System des einzelnen Lebensweges. Da heran zu kommen ist weit mühseliger, langwieriger und seltens von kurzfristigen Erfolgen gekrönt. Für selbige, denn man muß ja erst mal weiter leben, taugen kurzgreifende Ansätze und sind auch nötig, danach muß aber weiter mit dem Süchtigen geforscht werden. Bei nicht wenigen ein Leben lang, denn die Anfälligkeit zu suchtartigen Lösungsansätze bleibt meist ein Leben lang bestehen.

    Damit bezieh ich mich aber jetzt nur auf den Aufhänger Deiner Betrachtungen ;-)

  7. @Chräcker: die Suchtgeschichte war mir im Grunde nur BEISPIEL – ich maße mir nicht an, über sämtliche Suchtfälle und ihre Heilung Bescheid zu wissen! Meine eigene Suchterfahrung hat mich einiges gelehrt, jedoch muss das ja nicht bei jedem so sein, klar.

    Jedoch: ich höre auf das Wort und da hat m.E. SUCHT viel mit SUCHE zu tun. Nämlich die Suche nach dem „eigentlichen“ Leben, das sich eben nicht in den Erfordernissen des Alltags erschöpft, sondern tatsächlich bedeutend und erfüllend ist. „Bedeutend“ nicht im Sinne von Ruhm und Prominenz, sondern im Sinne von WIRKUNG HABEN für Andere bzw. für wichtige Probleme und deren Lösung. Man kann damit in stofflichen Süchten landen, wobei die Chemie eben eine Zeit lang die gefühlte Bedeutung vermeintlich herzustellen vermag – immer um den Preis, sich DANACH noch weniger „auf dem richtigen Weg“ zu fühlen als vorher.

    Verbreiteter sind die gesellschaftskompatibleren Süchte, allen voran die Arbeitssucht, die dem ihr Verfallenen das Gefühl gibt, gebraucht zu werden und WICHTIG zu sein. Wobei das oft genug Illusion ist, so austauschbar wie man in vielen Jobs heute ist – und auch deshalb Illusion, weil man eben abhängig ist von diesem fast rund-um-die-Uhr eingespannt sein. Und Fragen nach dem Sinn des Tuns gar nicht mehr stellt.

    Ein guter Prüfstein für die eigene Situation ist m.E. das Vermögen, einfach mal ’ne halbe Stunde nichts zu tun (ohne zu dösen). Wenn mangels Ablenkung und Beschäftigung dann deutlich UNANGENEHME Gefühle und Gedanken aufsteigen, dann stimmt was nicht.

  8. Die Gründe, die zu einer Sucht führen, mögen sehr verschieden sein. WAS eine Sucht aber letztendlich ausmacht, ist in jedem Fall sehr ähnlich.
    Und darum lässt sich darüber auch breit reflektieren. Mit durchaus für alle gültigen Rückschlüssen.

  9. Ich vermute,@Claudia, dass ich mich entweder gerade in einer anderen Gedankenstrecke festgefahren habe und den Sprung auf den hier fahrenden Zug nicht richtig finde, oder, das es einfach nicht reicht, deinem Anstoß und der Diskussion hier richtig folgen zu können – weshalb mein Kommentar dann auch keinen Sinn gibt.

    Aber in dem Versuch, es doch noch verstehen zu wollen und dem wiederholenden Lesen der Zeilen entdecke ich auf einmal viele, viele interessante Gedanken, auch in den Kommentaren.

    Vielleicht, auch wenn ich weiterhin daneben liege, ist es die Frage nach der Mitte, zwischen Abenteuer-Modus und funktionieren, das das eine das andere nicht ausschließt oder falsch ist.

    Ich denke an ein Flugzeug, wo im Start Turbinen und Personal auf höchste Konzentration und volle Kraft eingestellt ist. Ist die Flughöhe erreicht, verklingt das Dröhnen der Motoren und der Autopilot übernimmt den Dienst – schlichtes und einfaches funktionieren ist jetzt das beruhigenste – bis dann wieder zum Landeanflug.

  10. Oh, ich wollte ja, wie doch auch geschrieben, nicht Deine letztendlichen Gedanken in Abrede stellen, sondern eher „sogar“ an diesem einen wichtigen Thema des Artikels vorbei darauf deuten, daß wir zur konkreten Person des Filmes nichts sagen können.

    Und dazu auch noch, Thinkabout, feststellen, daß die Situationen von Süchtigen sich sehr ähneln können, aber die Systeme, die dazu führten, nicht zu arg pauschalisiert und „repariert“ werden können, sondern hier ein hohes Maß an individueller Ursachenforschung (Therapie und ähnliches) notwendig ist, damit der Mensch wieder ein ganzes wird.

    Genau deswegen gehen Filme wie der genannte ja immer fehl, weil sie nur oberflächlich pauschale Antworten zeigen wollen. Die gibt es meiner bescheidenen Meinung nicht.

  11. Hallo alle,

    will Euch mal sagen (und herzlich danken!), dass ich es wirklich klasse finde, was hier manchmal für gute Gespräche entstehen!

    Oft schreibe ich so einen Artikel, der sich NICHT um aktuelle Themen dreht, indem ich mich einfach hinsetze und warte, was „von selber“ an Gedanken und Themen ein-fällt. Es ist mein eigenes Echolot, um in den Abenteuermodus zu kommen: schreiben über das, was mich gerade wirklich bewegt, nicht unbedingt an der Oberfläche der Alltagswichtigkeiten, sondern auf Nebenspuren, die sonst wenig „Spielfeld“ bekommen, aber in Augenblicken der Muße ins Bewusstsein treten.

    Wenn ich mich dann aber im Bemühen um „Schärfe der Gedanken“ und einen „ordentlichen Kurzessay“ vom eigenen Gefühl und Motiv für den Artikel entferne, wird es vielleicht ein runder Beitrag, doch befriedigt es mich nicht. Es wird „Arbeit“…

    Also leiste ich mir hier (wo sonst?) durchaus Unschärfen und die Freiheit, einen Aufhänger wie etwa die Spielsucht-Geschichte zu wählen, um ein größeres Thema anzureissen, dass ich dann jedoch bei weitem nicht ausführe.

    Ich schick das dann ab und denke mir: na, dazu wird vielleicht niemand was sagen… und – oh Wunder! – es kommen trotzdem substanzielle Beiträge, in angenehm entschleunigter Form.

    Offenbar macht es nichts, „unfertig“ zu bleiben – das lässt dem Leser Raum, eigene Assoziationen und Deutungen zu ergänzen.

    Ja, das wollt‘ ich einfach mal gesagt haben – sozusagen OT! :-))

  12. @Menachem: ich denke, dir geht es wesentlich um das Verhältnis zwischen Abenteuer-Modus und Pflicht, Routinen, Alltagserfordernissen. Niemand kann ja fortwährend im Abenteuer-Modus leben – außer vielleicht in einem angeleiteten Psycho- bzw. Selbsterfahrungs-Workshop mal über ein Wochenende.

    Meine Gedanken gingen vom Extrem aus, dass gar kein Bezug mehr zum selbst gelebten Leben besteht, sondern Menschen sich komplett von (echten und vermeintlichen) Zwängen, Erwartungen anderer und den eigenen Vorstellungen, wie MAN zu leben und was man zu tun hat, leiten lässt.

    Typisch für in dieser Form Anfällige ist z.B. die massive Klage über „zu wenig Zeit“. Das sagen Menschen, die der Meinung sind, erst käme alles, was man so tun MUSS – und erst danach, wenn dann noch Zeit übrig bleibt, das, was man tun WILL. Und oft genug bleibt dafür dann eben gar keine Zeit, bzw. die, die man hätte, wird für Ablenkung, Unterhaltung, sogenannte „Entspannung“ verwendet (evtl. dann auch Alkohol oder eben Spielautomaten).

    Mich hat bei der Betrachtung dieser Dinge eine kleine Anweisung meines früheren Yogalehrers über den Rahmen der Körperübung hinaus sehr bereichert. Es ging um eine relativ anstrengende komplexe Übung („Gruß an die Sonne“), bei der die Schüler dazu neigen, die ersten beiden Durchgänge noch sehr korrekt zu vollziehen, dann aber in einen Schnell-Schnell-Modus überzugehen, um die angesagten 7 Runden (=14 Sonnengruß-Reihen) FERTIG zu bekommen. Hinterher ist man auf diese Art echt „fertig“!!

    Er sagte dazu unter anderem den kleinen Satz: „Ruh dich IN DER ÜBUNG aus!“. Man solle also die Bewegungsabfolge vollziehen, als würde sie niemals enden, als sei das unser Schicksal ohne jede Hoffnung auf ein Ende (sozusagen wie Sysiphos den Stein den Berg hinauf schiebt, der immer wieder runter rollt und er schiebt einfach weiter).

    Und ich begriff, was er meinte und entspannte mich in die jeweilige Haltung/Stellung hinein, was das Ganze sehr viel angenehmer, korrekter und unanstrengender machte.

    Es ist eine Suche nach dem bestmöglichen Befinden, nach der Möglichkeit des Glücks in dem, was gerade ist – nicht irgendwann DANACH.

    Gewöhnt man sich eine solche Haltung als Lebenshaltung an, ist jedes neue Erfordernis des Alltags eine solche Übung: wo ist hierbei jetzt mein Zugang zu Lust und Sinngefühl??

    Das ändert die Art, wie man seine „ToDos“ zusammen stellt – und ganz gewiss wird man nicht mehrheitlich Aufgaben anziehen, die jeglichen Sinn und jegliche Lust vermissen lassen!

  13. Ich möchte mir den Ausdruck ’spannend‘, den Du hier verwendest – “Wir alle wollen, dass das Leben auf irgend einer Ebene spannend ist, dass unser Tun Bedeutung hat und sich nicht in bloßen Routinen und Gewohnheiten, Sachzwängen und ökonomischen Notwendigkeiten erschöpft“ – wie den Ausdruck ‚wirklich wichtig‘ – “Eine Ebene des Handelns, auf der wir uns mit ganzer Kraft einsetzen für Dinge, die uns wirklich wichtig sind.“ – gerne einmal näher anschauen.

    Weil ich vermute, daß beide für die meisten Menschen, die überhaupt darüber nachdenken bzw. scheinbar ‚abenteuerlich‘ handeln, ihren Gehalt weniger aus einer positiven Bestimmung dessen, was ’spannend‘ oder ‚wirklich wichtig‘ wäre, gewinnen als aus einer negativen Abgrenzung gegen einen Alltag, der als ‚unspannend‘ und ‚unwichtig‘ empfunden wird. Das Gefühl, daß jenseits der alltäglichen Routinen (in Beruf, Haushalt, Ehe/Liebe/Freundschaft, Nachbarschaft oder sogar Politik) doch im Leben mehr zu geschehen habe, zu holen und zu ergattern sei, erreicht und bewirkt werden könne, hängt für mich bei sehr vielen Menschen damit zusammen, daß eben diese Routinen als emotional ungenügend empfunden, als unveränderbar aber unvermeidlich eingeschätzt und als nahezu unüberwindliche Schranke des eigenen Handelns und der eigenen Wirksamkeit betrachtet werden.

    Was jede mögliche Überwinden dieser Schranken dann sehr leicht zu einem grandiosen Gewaltakt verklärt. Extensive Freizeitnutzung, Risikosportarten, ausgedehnte Urlaube, riskante Seitensprünge, totales Aussteigen, Drogen und Süchte, Versenkung in die Innerlichkeit, alles versprechende Revolution und totale Weltverbesserung, Kriminalität und Amoklauf usw. wären da einschlägige Bilder. Je nach sozialer Kompetenz, ökonomischer Ausstattung und unterstützenden peer groups fällt die Wahl dann auf einen oder mehrere dieser ‚Auswege‘.

    Die für mich deswegen allesamt weniger nach Abenteuer denn nach Verzweiflung riechen.

    Wenn ich mir die Scharen der am Rande des körperlichen Zusammenbruchs in häßlichen Trikots durch die Berge Radelnden anschaue, oder die Menschen, die sich an Gummibändern und Plastikflügelchen in die Tiefe stürzen, oder diejenige, die bedenkenlos jede Chemie in sich hinein schütten, bis ihnen die Zehennägel wieder aus der Stirn heraus wachsen, dann sehe ich nur eines: von panischer Angst vor Alter, Krankheit, Tod, Stillstand, Leere und Einsamkeit Getriebene – und keine Abenteurer. Natürlich werden all diese Verrücktheiten als supergeile Abenteuer verkauft. Du mußt dich nur mal mit einem Kampfsportler, einem Mountainbiker, einem Turniertänzer, einem Paraglider, einem Esoteriker oder irgend jemand mit einem zwanghaft anmutenden Freizeittick Geschlagenen einen Abend lang über sein jeweiliges Spezialgebiet unterhalten, dann schwirrt dir der Kopf oder du greifst selbst zu irgendetwas Exorbitantem wie Tiefseetauchen in Handschellen und ohne Aqualunge in Begleitung freundlicher Haifische.

    Allen gemeinsam, so sehe ich es, ist das Davonlaufen vor Alltag. Sei er beruflicher oder privater oder sozialer Natur. In ihm sind sie alle ohnmächtige Zwerge, aber in ihren Spinnereien leben sie den Entwurf des autonomen Subjektes und holen sich einen Vorgriff auf das, was mit ‚Mensch‘ womöglich gemeint sein kann. Das Verrückte ist, daß sie in diesem Davonlaufen sich oft noch unendlich viel dämlicher und weniger autonom geben und so erschreckend leicht zu domestizieren sind wie Schafe.

    Warenkonsum-kritische Ökomittelständler mit tiefen und ernsthaften Sorgen um den Regenwald kaufen sich teure und in der Herstellung massenhaft Energie verschlingende Aluräder, um das Zubetonieren und tödliche Exploitieren einer Landschaft wie der Alpen mit ‚geilen‘ Rundtouren um den Großglockner oder auf der Seiser-Alm zu unterstützen. Weil die Kollegen/Nachbarn das auch tun und es sie jung und gesund erhalten könnte, womöglich! Sie füttern als willige Zahler mit lächerlich detailversessener Akribie eine alberne Zubehör- und Ausrüstungsindustrie – du wirst ja heute kaum noch für voll genommen, wenn du zum Tabakladen im Dorf mit dem Fahrrad fährst, ohne die passende Funktionsunterwäsche unten drunter zu tragen – die für einen guten Teil der Umweltverschmutzung und der Ressourcenverschwendung sorgt. Sie überladen ihre Eigenheime mit handwerklichen Produkten aus dem angesagten Versandhaus gleichen Namens oder malerischen Handelsquellen, entdeckt im letzten Urlaub fern des verachteten Mainstreams, als würde das die sagenhafte Periode des einfachen Warentausches mit ihrer angeblichen Hochachtung vor der Qualität der Arbeit wieder ins nie gehabte Leben rufen können. Oder sie versenken sich in die Weisheiten von in aller Munde kursierenden Lehren zum inneren Erleben des Menschen, deren handlungsleitender Gehalt über ein ‚take-it-easy‘ kaum nennenswert je hinaus kommt.

    Langer Rede Ziel: das Wort ‚Abenteuer‘ hört sich für mich (von sicherlich vorkommenden Ausnahmen abgesehen) wie ein prima Schlüsselwort aus der Werbung an. Nach Bio, nach Gesund, nach Luxus kommt nun das Abenteuer (expansiv wie ein Abenteuerurlaub all inclusive und innerlich wie die Nachdenklichkeit einer Expertenrunde in Sachen Lebenssinn mit Kai Pflaume als Moderator).

    Und das ist auch äußerst praktisch: wer das Abenteuer jenseits des Alltags sucht, sucht diesen nicht abenteuerlich zu gestalten. Wer sich jenseits ökonomischer Zwänge zu befreien sucht, sucht sich nicht von diesen zu befreien.

    Der Mensch im Abenteuermodus, so scheint mir fast, ist kaum etwas anderes als eine moderne Fassung des altbekannten Diederich Heßling.

  14. Ich erinnere mich gerade, jetzt mal etwas zusammenhanglos in den Raum gerufen, an ein Gespräch von vor vier Tagen. Mein Sohn hüpft vor uns die Straße entlang, für einen sieben jährigen eher „uncool“ und ich meinte zu meinem Vater, seinem Großvater:

    „hoffentlich behält er diese Lässigkeit im Leben, Klara (meine Tochter) tut sich da weit schwerer“

    und er

    „ich hoffe doch, nicht ganz so lässig wie Du bis heute“

    und ich dachte mir: ich hab wohl andere Prioritäten bisher im Leben gehabt, als er sich für mich wünschte – zum Glück und zu meinem Glück möchte ich eitel sagen, fühle ich mich immer sehr nahe „bei mir“ und bin sehr zufrieden an der Stelle, wo ich lebe. Das zählt halt nur nicht so viel auf der herkömmlichen Leistungslatte.

    Lebensziele basteln wir Eltern für unsere Kinder gerne schon mal gedanklich vor. Eine gute Schulbildung wünschen wir uns ja nicht nur aus Spießigkeit – und locker erzielte gute Noten und schnelle Auffassungsgabe erfreut uns ja auch deswegen das Herz, weil wir merken, daß die Kleinen einer gesicherteren Zukunft entgegen gehen als andere.

    Nun tut sich meine Tochter etwas schwer und ich denke schon: sollte ich da auch mit Nachhilfe, konzentriertem üben und sanftem, aber vorhandenem Druck sie zu einer höheren Leistung anspornen? Sie genügt sich nämlich oft einfach selbst. – Oder sollte man nicht das eher „fördern“ und, man hat ja doch Verantwortung, in die Bahnen sanft lenken, daß sie zwar (nur) eine wirtschaftlich mittelmässige Stellung entgegen geht, dafür aber darin ein glücklich zufriedener Mensch wird, anstelle eine unglückliche Chirurgin zu werden? (Als Beispiel freilich nur…)

    Seine wirklichen eigenen Ziele heraus schmecken und filtern – diese auf, das Wort tauchte ja auf, Alltagstauglichkeit testen, und das dann erreichen. Bei mir ist es „dasein in der Familie, im sozialen Netz, Respekt bei Leuten, die mir wichtig sind bekommen (für den Kick der eitlen Seele – man möge es mir verzeihen) und, ja, es ist ein billiges Wort, Spaß haben. Ich mach halt lieber Dinge mit einem Lachen im Gesicht.

    WENN das bedeuten würde, daß ich dazu jeden Tag mit einem Rad und Systemwäsche Berge rauf und runter radel, wäre das in Ordnung. Aber ich muß mir dessen Sinn bewußt sein und das Ergebniss, stetige, leicht unaufgeregte, Zufriedenheit „in mir drinnen“ sollte für mich meßbar vorhanden sein.

    Es gibt keinen goldenen Weg für alle. Ein Kollege meiner Frau macht jeden Marathon mit. Rede ich mit ihm, spüre ich seine Ausgeglichenheit. Ich brauche das Miteinander der Familie. Andere wieder anderes. Wichtig ist es, in sich hinein zu horchen und richtig: damit jeden Tag 24 Stunden zu bestehen.

    Und Ausgleich-aktivitäten um Pannen bei dem Konzept, die den schnöden Alltagsbedingungen geschuldet sind, sollte man anderen schon zugestehen. Solange es das bleibt: Feinjustierungen… die übrigens auch mal richtig Laune machen dürfen ;-) Ob mit dem Gummieseil von der Brücke oder einfach mal ein gutes auswärtige Essen.

  15. Sumuze,
    das war ein ganz schöner Rundumschlag!
    Ich finde „Abenteuer“ noch nicht abgenutzt oder als ein Begriff der Werbebranche (die benutzt sicher andere)- und Claudia hat ihn ja im „Wortsinne“ angewendet.

    Was Menschsein sein kann, was Autonomie heißt, darüber gibt es noch keine verbindliche Ansicht, zumindest kenne ich sie nicht. In der Zwischenzeit bin ich teil-autonom, halb-autonom oder sogar viertel-autonom ..und es lässt sich so ganz vergnügt leben.

    Gruß
    Gerhard

  16. @Gerhard & Chräcker

    Daß „sich so ganz vergnügt leben“ läßt, habe und will ich nicht in Abrede stellen. Ich tu’s ja selbst.

    Und bilde mir sogar ein, ich wäre die Ausnahme, auch wenn ein paar Kilometer entfernt gerade wieder gegen den erklärten Willen der Anwohner (die leider beim Versuch, ihre „wirklichen eigenen Ziele heraus (zu,S.S.) schmecken und (zu,S.S.) filtern“ und „das dann (zu,S.S) erreichen“, scheiterten) ein Haufen Bäume für eine Autobahn abgeholzt wird oder ich lesen darf, daß die Arbeitsagentur in vorbildlicher Weise vor Ort die Leute von Quelle auf ihrem Weg („Ob mit dem Gummiseil von der Brücke“ oder nur um „mal ein gutes auswärtiges Essen“ sich zwischen die Kiemen zu stopfen) in die Arbeitslosigkeit begleiten wird…

    Trotzdem bewunderte ich schlichtweg den Mut jedes Legehuhns aus der ebenso benamten Batterie, welches laut heraus krähte, daß es im Käfig säße und da heraus wolle – statt wie alle anderen zu behaupten, Käfige wären spannende Herausforderungen an die innere Kunst des Minimalismus und der gelassenen Adaption an die Lebenswelt, und außerdem klettere es sich wunderbar aufregend am Maschendraht in die Höhe, wenn du nur die richtige Krümmung deiner Krallen hin bekämst, wozu es sehr gute und nicht ganz billige japanische Feilen mit einem ganz besonderen, nach uralter Tradition von Meistern ihrer Kunst per Hand ausgeführtem Schliff gäbe….

    Daß ich damit nicht exakt alle Menschen treffe, die sich in ihrem Käfig, sorry, Leben geschmackvoll eingerichtet haben und im Sommer an der Eiger-Nordwand Fast-Climbing machen, gebe ich gerne zu.

    Ich urteile halt pauschal und ungerecht.

    So ungerecht wie die Bank, die Quelle die Vorfinanzierung strich. Oder so pauschal wie die Koalitionsrunde, die wieder einen Teil der Kosten der Krankheitsvorsorge von der überlasteten Arbeitgeber- in die unterbelastete Arbeitnehmertasche (leider gibt es eben „keinen goldenen Weg für alle“) schaufeln möchte, dafür aber sich angelegentlich um die Besitzstandwahrung vermögender Hartz-4-Empfänger durch höhere Freistellung ihres Ersparten (was den unter 1% aller solcher Almosen-Empfänger, auf die das zutrifft, „übrigens auch mal richtig Laune machen“ dürfte) kümmert.

    Oder bin ich etwa gar noch pauschaler und ungerechter? Dann bitte ich hiermit um Verzeihung…

  17. Danke @Claudia, das du mir auf die Sprünge geholfen hast. Auch für deine Ausführung zu deinem Yogalehrer, in der man die Ruhe zu spüren meint.

    „Meine Gedanken gingen vom Extrem aus, dass gar kein Bezug mehr zum selbst gelebten Leben besteht, sondern Menschen sich komplett von (echten und vermeintlichen) Zwängen, Erwartungen anderer und den eigenen Vorstellungen, wie MAN zu leben und was man zu tun hat, leiten lässt.“

    Das ist, was auch mich beschäftigt.
    1. Was ist unser wirklicher und eigener Anspruch an uns selbst? Können wir den überhaupt selbst erkennen, weil
    2. Ansprüche und Erwartungen aus Familie und Gesellschaft so fest in Fleisch und Blut in uns sitzen, das wir meinen, es wären unsere. Und in dem Versuch diesen gerecht zu werden, ist es bis zur Sucht nur noch eine Armlänge.

    denn kein Mensch sucht sich eine Spiel-, Sehn- oder Arbeitssucht freiwillig aus. Zur falschen Zeit am falschen Ort kann es jeden von uns einholen, wenn wir mit Fremdpojektionen in unsere Person überfordert werden.

    Bedauerlich ist dabei, das Süchtige, gleich welcher Art, von der Gesellschaft nicht als Menschen wahr genommen werden, die Hilfe brauchen. Der Akoholiker ist willensschwach, der Sexsüchtige ist pervers, der Eifersüchtige beziehungsunfähig,…

    Ein Kreislauf, der durch gesellschaftliche Ächtung nicht unterbrochen wird. In dieser gesamten Atmosphäre ist es für den Spielsüchtigen nicht einfach, seinem Recht auf Selbstbestimmung näher zu kommen, egal, was jeder darunter für sich versteht.

  18. @Su: was für wortgewaltige Rundumschläge, fürwahr! Danke, dass du dich da so intensiv eingelassen hast, doch kann ich nicht umhin, zu sagen: das sind jede Menge zwar unterhaltend zu lesende Betrachtungen über postmoderne Lebenswelten und ihre Verrücktheiten und Verstiegenheiten.
    ABER was bringt dieser zynische Blick auf die Welt und die Menschen: Hat doch alles keinen Sinn, jeder ist ohnmächtig und steckt in Käfigen und Zwängen, aus denen er niemals heraus kommen kann? Jeder Versuch, anders zu leben ein Lacher?

    Ausführungen wie in deinem ersten Beitrag (Funktionsunterwäsche) hätte ich fast selbst noch in meinem Artikel bringen wollen, es liegt ja so verdammt nahe: eine Abgrenzung zum „Abenteuer als ob“, zum bloßen Konsum, zur Unterhaltung etc.

    Aber ich hab’s gelassen, denn ich frage mich: WER bin ich, dass ich sagen könnte, wann jemand im von mir gemeinten Abenteuer-Modus lebt und wann das nur gekaufte Illusionen sind? Schon mit 14 ging mir auf den Senkel, dass mein 18-Jähriger, stramm links engagierter Freund mir beibringen wollte, ich lebte im „falschen Bewusstsein“, weil ich mich weder mit der Arbeiterklasse identifizierte noch irgendwelche Ambitionen auf Revolution und Mao-Einheitsklamotten (statt der Einheits-Levis meiner Peergroup) hatte. :-)

    Du zitierst meine doch recht klare und einfache Erläuterung zu „Abenteuermodus“, interpretierst dann aber das Wort anders, nämlich als Werbespruch, was dann den Aufhänger abgibt für jede Menge lustige und abgründige Betrachtungen. Mir ging es aber tatsächlich um die menschliche SEHNSUCHT danach, „dass das Leben auf irgend einer Ebene spannend ist, dass unser Tun Bedeutung hat und sich nicht in bloßen Routinen und Gewohnheiten, Sachzwängen und ökonomischen Notwendigkeiten erschöpft“.

    Indem man – gewiss hier und da und meinetwegen massenhaft – beschrittene Fehlwege in diese Richtung durch den Kakao zieht, kommt man dem nicht näher. Man kann nicht VON AUSSEN erkennen, ob jemand auf dem richtigen Weg raus aus seiner persönlichen Tretmühle ist oder nur Ablenkung konsumiert und sich neue Illusionen macht. SUCHE ist auf jeden Fall schon mal besser als verharren, verzweifeln, verbittern, einer Sucht verfallen oder psychisch krank werden.

    Der KÄFIG ist nicht allein im Äußeren, sondern er wird erst zwingend und real durch die entsprechende innere Haltung, duch ein Bewusstsein, das meint, es gehe nicht anders und man müsse alles so, wie es ist, mitmachen und ertragen und sich darin bis an die Grenzen aufreiben (oder in die innere Kündigung gehen und nur noch Ablenkung/Unterhaltung suchen). Schließlich steht nirgends in den entwickelten Industrie- und Wissensgesellschaften neben jedem ein Mann mit Maschinengewehr und erzwingt das „weiter funktionieren“ bei Strafe sofortiger Exekution – das machen wir allzu freiwillig hübsch selbst!

    Am KÄFIG arbeitest im übrigen auch du engagiert mit, indem du vielerlei Bemühungen, dem „bloß funktionieren“ zu entkommen lächerlich machst und als absurde Verrücktheiten abtust.

    Das wir nicht nachhaltig leben und der aktuelle ressourcenverschlingende Lebensstil unlaubliche Schäden verursacht, liegt nicht allein an bösen Banken und Konzernen, sondern zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten und jeder ist daran in vielerlei Weise beteiligt. Aber auch da bringt es erfahrungsgemäß wenig, eine Vorwurfsfront zu eröffnen, die die eh schon umfangreichen Ansprüche, denen sich ein Individuum ausgesetzt sieht, nochmal vervielfältigt.

    Was sind mir Bäume an der fernen Autobahn, wenn ich doch täglich fast nur mit technischem Gerät umgehe und gar keine Erfahrungswelt mir die „Liebe zum Baum“ vermittelt? Dann bleiben halt nur Lippenbekenntnisse und gutmeinende Spenden der Besserverdienenden für Öko-Projekte – also Umweltschutz „aus dem Kopf“, soweit man sich das leisten mag, nicht aber aus echtem Gefühl, das dann gar nicht anders kann.

    Die Neuzeit hat uns das Individuum beschert – und nur in ihm liegt Anfang und Ende aller Veränderung. Also gilt es, dieses Individuum zu ermuntern, seine immensen Möglichkeiten zu unterschiedlichem Verhalten auch zu nutzen! Und eben nicht als Rädchen im Getriebe nur ein wenig zu jammern, aber niemals wirklich inne zu halten und zu fragen: MUSS ich das wirklich? BRAUCHE ich das jetzt auch noch? Ist das, was droht, wenn ich ANDERS agiere, tatsächlich so schlimm? Ist es nicht auch ein spannendes Abenteuer, die gesicherten Geleise hier und da nach EIGENEM Gutdünken zu verlassen und etwas zu riskieren?

    *

    Soweit dazu. Und zum Schluss noch zu Quelle, Karstadt etc.: diese Gemischtwarenläden sind ein Modell von gestern, dass sie verschwinden, ist unvermeidlich und man sollte das nicht noch mit Steuergeldern verzögern. Dass die Koalititon jetzt das „Schonvermögen“ von Hartz4ern verdreifacht, ist eine Reaktion auf die massenhaften Entlassungen, die derzeit in den Großkonzernen anstehen – und NICHT ETWA eine Wohltat für aktuelle Harz4er, die, wie du richtig sagst, nur in einer kleinen Minderheit entsprechend „vermögend“ sind! Man will die jetzt Entlassenen nicht auch noch gleich enteignen, wenn sie dann nach einer (ebenfalls verlängerten) ALG1-Zeit in ALG2 fallen.

  19. Hallo SuMuze,

    ich denke, Du vermischst da Betrachtungsbenenen, zumindest meine, mag sein, weil ich es zu lässig beschrieb. Deswegen treffen die Zitate herausgerissen auch nicht meinen Erkenntnisnerv gerade.

    Ich versuchs mal. Es geht mir darum, daß man herausfindet, was man für sich im Leben „haben“ möchte – ob erkennen will, wo man in sich ist. Das dies natürlich alles elitäre Übelegungen von Menschen sind, die relativ frei von materiellen Existenz-Sorgen sind, ist mir klar.

    Wobei dies in unserem Lande theoretisch alle sind, nur gebe ich zu, werde ich mich damit nicht ohne Schahm zitieren lassen wollen, denn lustig ist ein Harz-4 Leben keinesfalls.

    Gleichwohl: es ging mir um eine innere Ruhe, um ein finden eines Kerns in einem selbst.

    Nun kann ich zwar über die Situationen meines Legekäfigs reden und das alles nur eitle Selbsttäuschung eines Stacheldraht-hochkletterndes Lemmings ist, aber ganz ehrlich: ich habe nur noch, mit viel Glück, 50 Jahre vor mir. Sollte ich es schaffen, die von Dir genannten Umstände weiter für mein Leben zu ignorieren, wie ich es bisher geschafft habe (ich halte mich in der Tat für glücklich) dann bitte ich alle Mächte der Welt. Laßt mir diese Illusion solange noch. Ist ja nicht so lange.

  20. Sumuze,

    Das mit dem Maschendraht, das stimmt so, man kann es so sehen. Aber mit den Gefängnissen ist es doch so: Wo beginnen sie und wo hören sie auf? Befreie ich mich aus einem, lande ich vielleicht schon im nächsten. Werde vielleicht gewahr, daß es wieder eines ist, aus dem ich mich befreien sollte. Schlußendlich merke ich dann, daß auch mein Geist ein Gefängnis ist – die alltäglichen Schrullen, Sorgen, Nöte und Gedankenverrichtungen. Auch aus dieser Art Gefängnis gibt es tradierte Fluchtwege, die ich dann fleissig und zielbewusst ansteuern kann.

    Woher Deine Wut essentiell stammt, ist mir nicht klar. Das wäre für mich die spannendere Frage.

    Lieber Gruß
    Gerhard

  21. […] Claudia hatte ich gestern über Ansprüche nachgedacht, über unsere eigenen und fremden,  und bei Julia […]

  22. […] Wildgans’s Weblog besteht. Wer MEHR will, kann im Digital Diary weiter lesen, da gibts einen Artikel mit interessanten Kommentaren, der gut dazu […]

  23. Augen auf und durch, kann ich da nur sagen. Wobei ich das Nach-Innen-Schauen als viel wichtiger empfinde als das Nach-Außen-Schauen. Ich denke auch, dass Letzteres ohne das Erste gar nicht funktioniert.
    Schweigendes Akzeptieren ist zur Volkskrankheit geworden. Und sie nimmt virulent zu. Scheint das Leben einfacher zu machen. Ist aber nicht so.

  24. @Claudia
    Ich hoffte, eben diesen zynischen “Blick auf die Welt und die Menschen: Hat doch alles keinen Sinn, jeder ist ohnmächtig und steckt in Käfigen und Zwängen, aus denen er niemals heraus kommen kann? Jeder Versuch, anders zu leben ein Lacher?“ nicht zu haben und auch nicht zu zeigen. Nicht jeder Versuch ist mir ein Lacher, und die, über die ich mich sehr polemisch äußerte, finde ich weniger zum Lachen als zum Weinen.

    Meine Entschuldigung dafür, mich so falsch ausgedrückt zu haben.

    @Chräcker
    Du schreibst: “Es geht mir darum, daß man herausfindet, was man für sich im Leben ‚haben‘ möchte“ und “es ging mir um eine innere Ruhe, um ein finden eines Kerns in einem selbst“. Ich sehe nicht wirklich, wo ich Dir das Recht absprach, eben das zu versuchen. Ich hoffe sehr, daß Du dieses noch sehr lange tun kannst. Wenn Du allerdings als Zeithorizont eine Spanne von 50 (Bilanz-)jahren anführst, sehe ich dafür eher schwarz. So lange, fürchte ich, wird die Wohlstands-Enklave Mitteleuropa für die meisten ihrer Bewohner vermutlich nicht Bestand haben. Ich drücke Dir aber dennoch herzlichst die Daumen, daß Du den Beweis meiner Vermutung nicht antreten mußt.

    Für die Verwendung Deiner Aussagen in meinem Kommentar bitte ich nachträglich um Entschuldigung. Das war äußerst verzerrend und also sehr gemein.

    @Gerhard
    Der Anlaß meiner ‚Wut‘ (oder meiner Traurigkeit) ist ein Gespräch mit einem Menschen, dessen Urteil ich mein Leben lang blind vertraut habe, was die Welt, in der ich lebe und leben werde, angeht. Und seinen absolut ernst gemeinten Ratschlag, besser doch keine Kinder mehr in diese Welt hinein zu gebären, sowie seine Gründe dafür, die ich hier nicht auswalzen will. Jeder kann sie sich, so meine ich, gut selbst zusammen reimen.

    Ich glaube nicht (mehr), daß die Gesellschaft, in der ich lebe, mit zum Überleben ausreichenden Selbstheilungskräften (welcher Art auch immer) ausgestattet ist. Ich glaube eher, daß sie immer schneller aus dem Ruder läuft. Nicht zuletzt, weil an den Steuerrädern Menschen stehen, deren Zeithorizont und deren Verantwortlichkeit denen einer fin-du-siecle Runde in einem hell erleuchteten Luxusrestaurant entsprechen, die noch einmal sich die Gläser voll gießen läßt, während draußen die Gassen brennen. Und die Entdeckung der staatlich garantierten, unendlichen Zukunft der Menschheit als Quelle beliebig großer Wechsel zur gegenwärtigen Bilanzschuldentilgung trägt diesen Brand in alle Welt und in alle Zeiten. Womit er unlöschbar wird.

    Mit diesen netten Menschen an der noch netteren Tafel meine ich – damit niemand mich jetzt mißversteht – nicht die braven Leute, die sich vielleicht durch meine Kommentare oben angesprochen fühlen könnten und um Sinn und inneren Frieden und spannende Lebensgestaltung ringen. Diese Leute sitzen nicht an solchen Tischen, sondern sie verteidigen, wenn es hoch kommt, die mit Strass behängte Livrée des Lakaien drinnen im Saal, die man ihnen gnädig zuteilte, gegen die härene Kutte des Bettlers vor der Tür, die sie fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Und hoffen zitternd auf einen schönen Feierabend im Trockenen für sich und ihresgleichen. Ein Handeln, ohne das allerdings auch die herrschaftliche Runde nicht möglich wäre, die ihrerseits sich vorgenommen hat, nicht abzutreten, bevor sie nicht noch einmal so richtig Party gemacht hat.

    Eine pessimistische und resignative und absolut emotional dominierte Haltung, ja sicher. Muß sie deswegen falsch sein? Ich bin keine Buchhalterin und sitze nicht in einer Expertenrunde. Ich sitze (wieder einmal) in der Küche und lasse mir von der Katze das Gemüt wärmen. Dieses hier kann also gut als Katzencontent durchgehen.

    Vielleicht aber liest einmal jemand nach über die Zeit vor dem ersten Weltkrieg und die Gestalten, die damals die Politik der europäischen Großmächte bestimmten. Etwa in Mr. David Fromkin’s Buch ‚Europe’s Last Summer – Who Started the Great War in 1914‘ (zu Deutsch: ‚Europas letzter Sommer – die scheinbar friedlichen Wochen vor dem Ersten Weltkrieg‘, Blessing Verlag, München, 2005). Und denkt ein wenig darüber nach, was dieser Krieg und seine Folgen die Menschen gekostet und was sie ihnen genützt haben. Ein Tipp für echte Misanthropen, fürchte ich. Besser also, sich Mr.Wallace‘ ‚Infinite Jest‘ (zu Deutsch: ‚Unendlicher Spaß‘, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009) hinein zu ziehen.

    Wie auch immer – die Verstandesgaben habe ich leider nicht, Optimismus oder Lebensfreude für mich daraus zu wringen, daß ich aufgrund meines Alters und mehr noch meiner Herkunft vielleicht vor dem Übelsten vorher kommen werde. Nicht die Letzte in einem Rattenrennen zu sein schenkt mir keine Freude, sondern nur Trauer, wenn es denn keine Wut sein darf.

  25. Lieber nicht dem Urteil eines anderen Menschen blind vertrauen … Mir macht es mehr Freude, die eigenen Fehler zu begehen, als die der anderen zu kopieren. ;) Ein echtes Abenteuer.

  26. Hallo Susanne,
    Deine Sätze haben mich betroffen gemacht.
    Sehr wortgewandt gibst Du Deiner Trauer und Wut Ausdruck.
    Ich teile die geschilderten düsteren Bilder nicht – wohl weil ich schlicht schlicht bin – ich neige mich gerne Freude zu. Das war nicht immer so, deshalb bin ich dankbar, daß ich das Glas in der Regel halbvoll sehe.

    Danke für Deine Umfangreiche Antwort
    Gerhard

  27. @Liebe Su: Eine stracks auf die 7 Milliarden zugehende Menschheit geht nicht so schnell unter. Selbst ein weitgehender Kollaps der technischen Zivilisation ließe noch genug übrig, die auf anderem Niveau irgendwie weiter machen.

    Das heitert dich nicht auf, ich weiß, denn wer von uns will schon auf dem „anderen Niveau“ gern dabei sein? Doch ist ja auch diese Vision relativ unwahrscheinlich, dazu ist der Globus nun doch zu multipolar (und wird es immer mehr).
    Selbst an ein drastisch geändertes Klima werden sich Menschen anpassen – nicht überall, doch die Erde ist recht groß und wir sind viele.

    Was nun aber die nächsten und wahrscheinlichsten negativen Zukunftsvisionen angeht, so gilt für mich: wir haben trotz aller sich mehrenden Armut und Arbeitslosigkeit ein verdammt hohes Niveau in der Versorgung. Wir kranken mehr an der möglichen Fallhöhe, nicht an dem, was wirklich droht. Besitzstände und Sicherheiten zu verlieren ist nicht gleich Weltuntergang oder Zukunftslosigkeit für Kinder. (Denk nur mal, in was für brutalen und ärmlichen Zeiten Kinder auch immer dabei waren, ohne dass jemand meinte, man solle deshalb keine mehr bekommen!) Kinder empfinden immer jene Welt als „normal“, in die sie hinein geboren werden – ein guter Ausgangspunkt mit VIEL Kraft für Zukunft!

    Staatschulden und ihre Zukunftslast? Woher willst du denn wissen, dass es in 20 Jahren noch Geld gibt? Vielleicht haben sich ja die Staaten aufgelöst und Google vermittelt Verrechnungseinheiten?

    Nö, die allzu negativ-deprimierten Weltsichten rühren oft von geistig sehr feinen, tiefen Charakteren, denen es aber an fließender Lebensenergie, an Tatkraft und Wagemut mangelt.
    Dennoch üben sie Macht durch explizite Enthaltsamkeit aus: da „diese Welt“ nicht den Ansprüchen genügt, nimmt man auch nicht teil, macht sich die Hände nicht dreckig, riskiert nirgends ein Scheitern. Demotiviert aber sehr wohl Andere mittels entsprechender Kommentare und Analysen, betreibt also selbst das Geschäft des Niedergangs. Natürlich ohne böse Absicht und nur der „Wahrheit“ verpflichtet!

    Auch diese Sätze sind motiviert durch Erfahrungen mit lieben, geschätzten Nahestehenden, von denen ich mir gerne die Welt erklären ließ.

    Das Schätzen und Lieben ist geblieben, aber den geistigen Impact habe ich ABGESCHÜTTELT! Nicht zuletzt durch den Körper einbeziehenden Yoga – aber das führt jetzt zu weit weg.

    Dein nochmaliger Kommentar lässt mich übrigens den Hut ziehen! Ich hatte gefürchtet, du seiest im „negativen Intellekt“ eingemeiselt und werdest höchstens spitz (und wieder bös brilliant, klar) reagieren, wenn überhaupt.

    Statt dessen diese klare Offenheit – wie schön.

    Danke dafür

    Claudia

    Mitten im Matsch - ätsch, eine Blume. Zaubert Erwachen.