Morgens trinke ich Kaffe, gegen Abend ist es derzeit ein Yogi-Tee, auf dem auch eine „Übungsanleitung“ abgedruckt ist:
Tja, wer atmet lebt gefährlich, oder? Wie empfindlich und vorsichtig wollen/sollen wir eigentlich noch werden? Zu dieser „Übung“ ist auch noch anzumerken, dass sie noch nicht einmal eine tiefe Yoga-Atmung wagt. Weder ist von einer Atempause die Rede, noch von verlängerter Atmung und ebenso wenig vom Bauch, der auch eine große Rolle beim Yoga-Atmen spielt. Aber sei’s drum, es ist ja nur eine Tee-Verpackung, was will man da erwarten?
Aggressivität und Empfindlichkeit
Dass mir das überhaupt aufgefallen ist, verdankt sich einem Rant beim Maschinisten. Mit dessen Positionen bin ich in vieler Hinsicht nicht einverstanden, aber seine Schreibe amüsiert mich, meistens jedenfalls. In der Hirnsudelei 02/23 berichtet er, dass sein Sohn in der Schule wegen Anzettelns einer Schneeballschlacht gerügt wurde – hier der Dialog mit der Lehrerin und seine Anmerkungen dazu:
„Versteh ick nich. Ist jemand verletzt worden?“
„Darum geht’s nicht.“
„Doch, darum geht’s. Was ist so schlimm an Schneebällen? Waren Sie nie in dem Alter und haben sich über Schnee gefreut?“
„Darum geht’s nicht. Es könnte jemand verletzt werden.“Yo. Könnte. Verletzt. Werden. Ausschließlich damit begründen sie jetzt ihre zahllosen Verhaltensanweisungen. Wie die Nannypersonaler mit ihrer bescheuerten Glatteisrundmail. Huhu. Diese Zeiten. Ewig diese bittere Ernsthaftigkeit im heiligen Krieg um die waidwund bemutterten Seelen, die vor dem Leben beschützt werden müssen. Ein auswattiertes Käfigleben im Konjunktiv streben sie an. Könnte. Würde. Hätte ja jemand … bloß nicht atmen.
Was für seltsame Widersprüche sich hier immer mehr auftun! Einerseits scheint es so, als würden die Menschen hierzulande immer aggressiver, im Straßenverkehr, in der Notaufnahme, in den unsäglichen „Debatten“ auf Twitter und anderen Medien, in Morddrohungen gegen Politiker/innen… Andrerseits etabliert sich mehr und mehr eine Kultur der (Über-)Empfindlichkeit: Kaum mehr eine gesundheitliche Empfehlung ohne Hinweis auf den Hausarzt, wobei auch zehnmal so viele Hausärzte es nicht schaffen würden, zu den simpelsten Gesundheitstipps kundigen Rat zu geben.
Dann der Boom der Gefühle und Befindlichkeiten: „Ich fühle es“ ist die neue Bestätigungsformel zu Meinungsäußerungen aller Art, nicht mehr „du hast recht“ oder „stimmt, auf den Punkt gebracht“. Gefühle sind mittlerweile politische Pfunde, mit denen man wuchern kann: Sich durch dies und jenes beleidigt fühlen soll nicht weiter hinterfragt werden – Ende der Debatte! Damit will ich NICHT sagen, dass Großdebatten wie „Kulturelle Aneignung“ oder „MeToo“ nicht sehr beachtenswerte Missstände anprangern und mit allem Recht auf Veränderungen bestehen. Aber es wird schon auch gnadenlos überzogen, insbesondere, wenn Gefühle genutzt werden, um nicht weiter diskutieren zu müssen.
Ob beide Entwicklungen etwas miteinander zu tun haben? Und wenn ja, was? Ohh ja, ich fühle es, kann es aber leider nicht auf den Punkt bringen. Muss ja auch nicht, wer fühlt, hat doch immer irgendwie recht!
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5 Kommentare zu „Vor dem Atmen den Arzt fragen!“.