In einem Kommentar zum äußerst Presse-kritischen Artikel „Der Freitod eines Torwarts und die Ethik“ verteidigt ein Leser mit großer Leidenschaft die Presse, die gestern mit großem Aufgebot jedem Detail des Fußballer-Selbstmords nachging. Hier ein Auszug aus dem noch viel längeren Kommentar:
„Als ich heute morgen vom Tod Robert Enkes erfuhr, war ich schockiert. Enke. Ausgerechnet. Hätte ich nie erwartet. Dieter Bohlen. Norbert Lammet. OK. Die interessieren mich nicht, die kenn ich nicht. In China fällt ein Sack Reis um. Vor einigen Monaten habe ich erfahren, dass jemand, mit dem ich zur Schule ging, gestorben ist. Pffh. Ich habe ihn seit dem Abi nicht gesehen.
Aber Robert Enke, den habe ich jede Woche gesehen (im Fernsehen). Den kannte ich wirklich gut. Ich wußte oft schon vorher, was er nach dem Spiel sagt, ich kannte seine typische Mimik, ich hätte seine Stimme unter Tausenden herausgehört. Sein Tod schockiert mich wirklich.
Heute morgen habe ich alle googel-news Artikel zu Enke gelesen. Stand in den meisten das Gleiche. Egal. Ich wollte alles wissen, jedes Detail, wieviel vor Zugdurchfahrt war er an den Gleisen, wo hat er den Autoschlüssel aufbewahrt, wen hat er vorher noch gesehen.
Ist das nur Voyeurismus, den die Medien besser nicht bedienen sollten?
Nun, zunächst ist es einmal menschliche Anteilnahme. Durchs Fernsehen “kannte” ich Enke ja. Durch die Anteilnahme an Enkes Leben habe ich ein Recht darauf in ähnlichem Umfang an seinem Tod teilzunehmen und Details zu erfahren. Die Berichterstattung wäre damit also gerechtfertigt, da sie auf ein berechtigtes Informationsbedürfnis trifft.
Zum Zweiten möchte ich noch auf die immense Bedetung hinweisen, die Prominente für das moralische und politische Urteil von Indivieduen und der Gesellschaft haben.“
All die anderen Kommentatoren und diverse Blogs (z.B. 11Freunde, Niggemeier, Meedia, Spreeblick) sind sich im wesentlichen einig, dass hier mal wieder ein abscheulicher Voyeurismus zelebriert wird: eine Klick-Jagd um jeden Preis, der Selbstmord Enkes werde bis weit über jeglichen guten Geschmack hinaus ökonomisch ausgebeutet. Ja, es stehe der „Werther-Effekt“ in Gestalt diverser Nachahmer zu befürchten, da die Berichterstattung komplett gegen sämtliche „Empfehlungen für die Berichterstattung in den Medien“ der Deutschen Gesellschaft für Suizid-Prävention verstoße.
Ist die Ethik pietätvoller Zurückhaltung veraltet?
Kann es sein, dass diese Sicht der Dinge gnadenlos veraltet ist und die psychische Verfasstheit der heutigen Individuen einfach nicht mehr trifft? Ich staune schon lange über den ausufernden Starkult, der in Zeiten des Web 2.0 äußerst skurrilie Züge annehmen kann (so will z.B. ein Fan von einer gewissen Miley Cyrus seine Katze aufessen, sollte Miley ihren kürzlich gekündigten Twitter-Stream nicht weiter führen). Zu Prominanten und sogar zu bloßen Serien-Charakteren scheinen immer mehr Menschen Beziehungen zu pflegen, die weit wichtiger sind bzw. an die Stelle früherer, ganz normaler Freundschaften treten.
Warum ist das so? Was reizt Menschen z.B. jede Regung im Leben der mittlerweile entmündigten Pop-Figur Britney Spears zu verfolgen? Warum sprechen massenhaft Fans in die Mikrophone, Michael Jackson sei „ihr Leben“ gewesen? Hat man heute kein EIGENES Leben mehr?
Klar, in meiner Teeny-Zeit war ich auch Fan des einen oder anderen Pop-Sängers. Das verblasste allerdings schnell, als ich eigene Liebesbeziehungen hatte und mich insgesamt aufmachte, meine Vorstellungen vom Leben zu verwirklichen: das war dann viel spannender als jede Info über irgend einen Star!
Den Robert Enke hab ich nicht mal dem Namen nach gekannt, denn ich interessiere mich nicht für Fußball. Dass sein Selbstmord in Sachen medial vermittelter Erregung fast an den Tod von Lady Di oder des letzten Pabstes heran reicht, finde ich sehr seltsam – aber naja, Deutschland ist ja „Fußballnation“, da kann ich nicht wirklich mitreden.
Es nehmen allerdings nicht nur Fußballfans teil an diesem Ereignis, wie ja auch nicht nur die Leserinnen der bunten Was-macht-der-Hochadel-Blättchen um Lady Di trauerten. All diese Prominenten scheinen eine Art Archetypen der kollektiven Seele zu sein, mit deren Schicksal sich Menschen massenhaft identifizieren können. Enke ist jetzt der gefallene Held, der von einem bösen Dämon (der Depression) nieder gestreckt wurde, nicht etwa durch den ganz normalen Druck im Hochleistungssport – und schon gar nicht durch die „Info-Geilheit“ von Seiten der interessierten Masse, von der Last extremer kollektiver Aufmerksamkeit für jede kleine Regung, die ein „Star“ so von sich gibt.
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14 Kommentare zu „Prominenz und Masse“.