Jeden Tag ereignen sich Momente, in denen ich mich frage: „Und jetzt? Was soll’s? Warum eigentlich? Was bringt das angesichts des Universums?“ Das sind keine bewußt herbeigeholten Gedanken, sie drängen sich unaufgefordert auf, als würde der Arm eines altmodischen Plattenspielers aus der Rille springen. Ich muß ihn dann wieder richtig einlegen, wobei sich jedes Mal die Frage stellt: In WELCHE Rille? Ich kenn‘ doch schon alle Songs, oder nicht? Und dahinter lauert immer wieder das „warum?“.
Wäre ich unter Druck, hätte ich dieses „Luxusproblem“ nicht. Doch seit ich denken kann, lege ich Wert darauf, ein Maximum an Unabhängigkeit zu bewahren, bzw. erst mal zu erkämpfen. Das hat ganz gut geklappt, nicht nur nach aussen (keine Kinder, kein Besitztum, kein 9-to-5-Job), sondern auch nach innen: Änderungen akzeptieren, nehmen, was kommt, möglichst wenig festhängen an Dingen oder Eigenschaften.
Vom Ekel
Dass ich immer mit dieser Präferenz lebte, ist nicht meine „Leistung“, sondern es ist mir eingewachsen durch den Ekel, den ich in der Kindheit spürte, ohne noch ein Wort für ihn zu haben. Bis zum fünften Jahr wohnte ich im Drei-Generationen-Haushalt, in dem meine Großeltern das Sagen hatten. Es war eine Stadtwohnung ohne die Möglichkeit, die Wohnung als Kind eigenständig zu verlassen. Die Konflikte zwischen meinen Eltern und den Großeltern, wie auch zwischen Vater und Mutter, bekam ich heftig zu spüren ohne sie zu verstehen. Ständig konnte die Situation gewittrig werden, es war sehr bedrückend und machte mir Angst. Ich wurde auch oft „umgezogen“, hin und zurück vom Zimmer meiner Eltern in einen Alkoven bei Oma & Opa, je nachdem, wie mein Vater sich gerade aufführte, der des öfteren mittels einer Saufphase gegen seine Machtlosigkeit in dieser Familie rebellierte. Natürlich erkannte ich das nicht, sondern erlebte ihn als gefährliche Katastrophe, die jederzeit uns alle in den Untergang reissen konnte.
Oberflächlich war trotz allem meistens Friede. Ein Friede, in dem ich mich ständig beobachtet und beurteilt fühlte, denn ich war praktisch nie allein. Ich lernte früh lesen und schreiben, denn wenn ich mit meinen Stiften vor dem Papier saß oder in ein Buch schaute, wurde ich in Ruhe gelassen und mußte auch meine geliebte Großmutter nicht fürchten, die mir gelegentlich mit der Polizei, dem Teufel oder dem Schwarzen Mann drohte. Wenn wir dann mal irgendwohin gingen, ohne dass ich wußte, wohin, und ich an der Hand eines Erwachsenen die Treppen ‚runter stieg, überkam mich so ein Gefühl von Übelkeit, als musste ich gleich erbrechen. Es war aber keine vorrangig körperliche Empfindung, es war Ekel, ein zunehmender Ekel vor dem Leben, vor diesem ausweglosen Eingesponnensein in unerklärliche Mechanismen übermächtiger Gestalten, die ich doch liebte. Die Hand, die mich hielt, die Treppen, die vor mir lagen – unausweichlich, ich spürte meine völlige Machtlosigkeit und fand es einfach zum Kotzen.
Ich nehme an, dass mein dominierender Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit in diesen Jahren wurzelt. Keine Liebe und kein einzelner Mensch konnte mich vom Ekel befreien, ja, sie hatten gar keinen Begriff davon, wie ich empfand und natürlich konnte ich es nicht in Worte fassen, nicht mal in Gedanken.
Als wir den großelterlichen Haushalt endlich verließen und von Ulm nach Wiesbaden zogen, wurde einiges besser, anderes schlechter. Es gab jetzt einen Hof mit Wiese hinter dem Haus, ich konnte endlich RAUS! Doch traf ich dort auf eine Kinderbande, die mich als Ausländer behandelte – ich will das nicht vertiefen, Kinder sind grausam, das ist ja bekannt. Unsere Familie wurde größer, mit zwei Schwestern teilte ich ein winziges Kinderzimmer, das Leben war völlig verplant, man kann auch sagen, in „geregelten Bahnen“: Im Frühjahr und Herbst der große Familieneinkauf in den Versandhauskatalogen, dann der Sommerurlaub, auf den wir das ganze Jahr hinlebten und sparten, das immergleiche Ritual zu Weihnachten, das mir mit jedem Jahr peinlicher wurde – und gelegentlich die Saufphase meines Vaters, der als Angestellter in einer Bundesbehörde zwischen BAT 9b und 4a vegetierte. Ist ihm wohl recht langweilig gewesen, doch sagte er, ich müsse ihm nachfolgen. Vor seinen Ausrastern schützten jetzt keine Großeltern mehr…
Es wundert nicht, dass mein bewußtes Leben eine stete Bemühung um Befreiung geworden ist: Befreiung von der Familie, von Bindungen und Plänen, von vorgestanzten Tagesabläufen, von allen auf Sicherheit bedachten Gedanken und von einer Arbeitswelt, die mir zu öde schien, um auch nur ein paar Monate dort auszuhalten. In jungen Jahren befreite ich mich auch von den Männern, mit denen ich lange Beziehungen hatte. Obwohl wir immer beide verkündet hatten, heiraten sei völlig out, haben sie doch meine jeweilige Nachfolgerin geheiratet. Es lag also allein an mir, dass unter meiner Beteiligung keine Familie zustande kam.
Heute fühle ich mich so frei und unabhängig, wie man in dieser Welt nur sein kann. Was ich als Grund zum Widerstand mitbekommen hatte, ist vorbei und nicht neu entstanden. Und auch der Gegenentwurf, den ich als Folge meines Widerstandes entwickelt hatte, ist weg, Mitte dreissig nahe der Selbszerstörung endlich zerfallen.
So stehe ich jetzt relativ jung vor dem Nichts. Irgendwie dachte ich nämlich, man brauche sein ganzes Leben bis ins hohe Alter, um letztlich erst im Tod die Befreiung zu finden. Ich meine keine „absolute Freiheit“, wüßte nicht, was das sein soll, sondern die relative Freiheit von den Dämonen, die sich am Kinderbett einfinden und einen mittels Angst und Ehrgeiz durchs Leben treiben.
Und jeden Tag ereignen sich jetzt viele Momente, in denen ich mich frage: „Und nun? Was jetzt? Was soll’s? Warum? Was bringt das angesichts des Universums?“ Ich frage das nicht ernsthaft, es ist nur wie ein Stocken und Stottern in den Abläufen, von deren psychischen Zwängen ich mich ja weitgehend frei gemacht hatte. Und weil das nicht unbedingt angenehm ist und die Prägungen nach wie vor existieren, entfalten die Schrecken meiner Kindheit manchmal verführerischen Glanz: Such dir Familienanschluß, es gibt genug gestresste Eltern, die dich brauchen (mein Schwester zum Beispiel hat 3 Kinder und kaum Geld…). Such dir mehr Bindungen, übernehme mehr Verantwortung, spinne dich ein in Aufgaben, die dich nicht mehr nachdenken lassen über das Warum und Wozu. Das wird dir neue/alte Freuden und Leiden bringen, vor allem aber BEFREIT es von diesen unbeantwortbaren Fragen, von den Lücken in der Motivation, von allen Momenten der Leere.
Essen, wenn man hungrig ist, muss sein; essen aus Appetit macht immerhin Freude. Aber essen, nur weil da ein Gefühl der Leere im Magen ist, macht dick und krank. Es kann also nicht der Weg sein, einfach in das mühsam Abgelegte zurückzufallen, nur weil mir sonst nichts einfällt.
Diesem Blog per E-Mail folgen…