Wieder beginnt ein Tag, der mich nach draußen ziehen wird, schön, warm, sonnig, mit dieser Melancholie des Herbstes. Wenn ich meine Untätigkeit der letzten Zeit betrachte, hoffe ich auf schlechteres Wetter, Arbeitswetter, draussen alles neblig, dunkel, trüb, kalt und naß, so dass es das Selbstverständlichste ist, im Virtuellen und Symbolischen zu leben.
Es war beileibe nicht immer so, dass mein Tun oder Nicht-Tun derart stark von atmosphärischen Einflüssen abhing. Meist hat mich der Ehrgeiz getrieben, oder auch die Angst, was fast dasselbe ist. Immer wollte ich etwas erreichen, hatte Vorstellungen, wie schön es wäre, da oder dort angekommen, dies oder jenes vollendet zu haben: Wieder ein Erfolg, eine Erweiterung meiner Besitzstände, nicht unbedingt der materiellen, sondern wie im GO-Spiel eine Vergrößerung des Einflusses. Und immer war da der diffuse Gedanke, in der Zukunft werde alles wunderbar, ganz anders, viel besser.
Das alles ist anders geworden, schon in Berlin, doch durch den Umzug nach Gottesgabe ist es überdeutlich: Was sollte ich denn noch wünschen, nachdem ich hier jederzeit mit ein paar Schritten raus in die Landschaft, auf die Wiese, in den Wald, an den See gehen kann? Als Stadtmensch war mein Ziel der Sehnsucht das DRAUSSEN SEIN. Ich kannte das praktisch nur aus dem Urlaub, doch fuhr ich ja nicht mehr weg, es fehlte mir also immer stärker. Und nicht nur mir, schließlich fahren Millionen Menschen mehrfach im Jahr an irgendwelche Strände, in primitivere, unzivilisiertere Umgebungen, wo sie sich endlich wieder als körperliche Wesen spüren: barfuss durch den Sand laufen….
Die Sehnsucht nach dem Haus im Grünen ist genau dasselbe. Man kann mit dieser Sehnsucht in der Stadt wohnen bleiben und glauben, man habe nicht genug Geld und keine Möglichkeiten. Man kann aber auch einfach ‚rausziehen und sich etwas MIETEN. Es ist im Grunde einfach, solche Wünsche zu erfüllen, Miete zahlen müssen wir ja überall.
Worauf ich hinaus will: Im Hintergrund all der üblichen Aktivitäten ist normalerweise eine Schicht mehr oder weniger bewußter Wünsche und Vorstellungen, die uns antreiben, Energie zum Arbeiten geben. Es muß nicht das Land sein, jeder hat seine je eigenen Wünsche. Das Bedürfnis, anerkannt zu sein und immer mal wieder ein Siegertreppchen zu erklimmen, hält auch recht lange vor. Doch irgendwann mal merkt man, dass das immer das gleiche Spiel ist und der Energieaufwand in keinem Verhältnis zum „Erfolg“ steht. Gute Projektleiter in Unternehmen schließen mit hohem Einsatz ein Projekt ab – und bekommen halt dann das Nächste aufgedrückt: same procedure… Ein Lob dazu, ok, das fühlt sich für ein paar Sekunden toll an. vielleicht auch mehr Geld – aber was hat einer denn davon, wenn die Zeit fehlt? Darüber denkt man dann nicht nach, im Hintergrund stauen sich die nur verschwommen wahrgenommenen Wünsche, es geht um das neue Projekt und nicht darum, diese Wünsche KLAR zu sehen und so schnell wie möglich zu verwirklichen. Wer denkt schon daran, dass das Leben nicht unendlich ist? Erst, wenn der Arzt sagt „Sie haben Krebs!“, sieht auf einmal alles ganz anders aus.
Oft zeigt sich die Folie der Wünsche auch rein negativ: Wenn endlich der Kredit abbezahlt, die Scheidung über die Bühne, der Vertrag gelöst ist, DANN endlich… ja, was denn dann?
Ja was? Das frage ich mich jetzt öfter mal, vermutlich zur Langeweile meiner Leser. An der Oberfläche ist natürlich alles wie gehabt. Ich arbeite an verschiedenen Projekten, kommuniziere über Pläne und Ziele, und doch – manchmal Tage und Wochen lang – ist da ein Stocken der Maschine, das ich auch durch heftige Willensanstrengung nicht überwinden kann, ja, nicht mal ernsthaft überwinden will. Es fehlt einfach die Wunsch-Energie und ich weiß nicht recht, wie damit umgehen. Eine Möglichkeit, die sich anbietet, ist, ganz vernünftig die eigenen Aktivitäten als eine bloße Erhaltung des Status Quo zu sehen. Ich muß so weiter machen, damit es weiter geht, damit ich weiter in dieser wunderschäönen Umgebung leben, die komfortable Wohnung bezahlen, und mir diesen und jenen kleinen Konsumwunsch erfüllen kann, ohne groß mit der Mark zu rechnen.
Hört sich gut an, funktioniert aber nicht. Aus vielen Erfahrungen weiß ich, dass die Konzentration auf die Erhaltung eines Status Quo, eines wie immer gearteten Besitzstandes, bedeutet, geistig-psychisch in eine Verteidigungshaltung zu geraten. Die Aufmerksamkeit geht dann von dem, was MEHR sein könnte, vom Reich der Expansionsmöglichkeiten weg ins Gebiet der Gefahren: Wo droht etwas? Wer könnte mir etwas nehmen? Wo könnte ich durch ein Fehlverhalten oder mangelnde Anstrengung etwas verlieren? Das Bewußtsein des Reichtums geht so in ein Bewußtsein der Armut über, und weil „die Welt“ nicht unabhängig von mir existiert, sondern interaktiv reagiert, erlebe ich dann nur noch Kampf und Verlust. Von allen Seiten scheinen es Angreifer und schlimme Umstände darauf anzulegen, meine Welt in Schutt und Asche zu legen. Das ist mir früher öfter so gegangen, ich brauche es nicht zu wiederholen. Man verliert dabei tatsächlich IMMER, egal, wie sehr man sich anstrengt.
Wer sich dagegen als Wesen mit Potenzialen, mit Ideen und Fähigkeiten erlebt, die bei Bedarf bloß verwirklicht werden brauchen (nicht müssen!), hat ein Reichtumsbewußtsein, selbst mitten in materieller Armut. Mir ist das mit 36 zugestoßen, NACHDEM ich mich auf dem absoluten Tiefpunkt befand: finanziell, sozial, psychisch, körperlich. Im Tief so lange kreisen, bis es umschlägt, bis auf einmal alle Kritik, alle Negativ-Vorstellungen und Befürchtungen abfallen wie nutzloser Ballast. Man ist ja schon auf dem Grund, es kann nichts Schlimmeres mehr geschehen und siehe da: Ich lebe! Ganz von selbst…
Seither begleitet mich Unbekümmertheit. Alles, was mir seitdem zugewachsen ist (mehr, als ich je zuvor mit aller Anstrengung erreichen konnte!), hat mich nicht belastet und nicht groß beeindruckt. Danke sagen und genießen, morgen kann alles wieder weg sein, das ist nichts besonderes.
In der Unbekümmertheit breitet sich das JETZT aus. Und das Verlangen, sich dem ohne Widerstand hinzugeben. Einfach nur durch einen sonnigen Tag laufen. Endlich einmal die Lücke zwischen zwei Gedanken erwischen und darin verschwinden. Inter-esse langweilt, warum nicht einfach da sein?
Tja, aber da ruft die Arbeit. Funktioniere gefälligst, sonst wird dir etwas genommen! Und so oszilliere ich zwischen Sein und Sollen, Tun und Lassen und schreib Euch gelegentlich ‚was auf. ;-)
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