Seit gut einem Jahr wohne ich nun hier in „Schloß Gottesgabe“. Mein in den letzten Jahren Berlin stärker gewordener Wunsch nach einem Leben auf dem Land ist auf bestmögliche Weise erfüllt. Es war kein romantischer Wunsch. Ich fand es einfach schrecklich, nur dreimal im Jahr die Metropole zu verlassen und „die Jahreszeit zu besichtigen“. Von Kreuzberg aus musste man in jede Richtung mehr als eine Stunde fahren, um überhaupt den Stadtrand zu erreichen: nicht lohnend, wenn das Wetter nicht stabil ist, wenn man nur eben mal Luft schnappen oder eine grüne Wiese sehen will, die nicht völlig „übernutzt“, sprich vermüllt ist. Das ewige Dröhnen des Strassenverkehrs: Niemals Stille! Heute scheint es mir schon unvorstellbar, wieder in diesen Verhältnissen zu leben. Und wenn ich nach Berlin ‚reinfahre, hab‘ ich erstmal zwei Stunden Kopfschmerzen und leide unter dem Stadt-Smog.
Jetzt lebe ich hier und es ist gut so. Die Umgebung des Schlosses bietet weit mehr, als jedes Einfamilienhaus in noch so idyllischer Lage: 30.000 Quadratmeter Wiese, „Park“, Garten, Wald, Feuerstelle, Hühnerstall – und ein Sumpf, der früher mal ein Weiher war. Dies alles locker von Büschen umgeben und so gegen das Dorf abgegrenzt, bzw. durch Wald und Sumpf gegen die angrenzenden unbebauten Wiesen und Felder. Gerade sind die Obstbäume reif und ich kann Saft pressen, der ganz wunderbar schmeckt. Der Raum bietet Möglichkeiten, ohne zwangsläufig Pflichten aufzuerlegen: dass ich die Hühner pflege, ist meine eigene Entscheidung und ich kann auch wieder damit aufhören. Am schönsten finde ich es, jederzeit ins Freie zu können und jedes Wetter ganz nah mitzubekommen, ohne erst eine große Reise antreten zu müssen. Es ist genau die richtige Abwechslung, der effektivste Erholungsfaktor, den ich mir zu meinem Leben vor dem Monitor nur denken kann.
Es ist also gut, wie es ist, und jetzt? Schon lange fällt mir kein Wunsch mehr ein, der sich auf äußere Veränderungen bezieht. Weder treibt es mich in ferne Länder, noch kann ich mir irgend eine „Verbesserung“ der Wohnsituation wünschen: Ich zahle 1000 DM Mietanteil für die obere Etage unserer Maisonette-Wohnung, und geniesse dafür hohe Räume, Parkettboden, viel PLATZ. Es könnte nicht schöner sein.
Auch in meinem Arbeitsleben bin ich nach langem Experimentieren und vielen unterschiedlichen Formen in genau DIE Lage gekommen, die ich mir immer als optimal vorgestellt hatte: Tun, was ich sowieso tun will, die Aufträge und Projekte ergeben sich beiläufig; ich kann davon leben, ohne auf die Mark achten zu müssen, alles perfekt!
Und jetzt? Veränderungen zu wünschen, war immer Teil meines Lebens. Zur Not ging ich mit dem Kopf durch die Wand, wenn ich meinte, das müsse jetzt sein. Als Kind eines unberechenbaren Alkoholikers hatte ich in den ersten 18 Lebensjahren derart viel Stress, Angst und Probleme, dass ich es auch weiterhin ganz natürlich fand, immer ANDERS leben zu wollen: Zweierbeziehungen, Wohngemeinschaften, besetzte Häuser, dann wieder alleine. Nie war ich zufrieden, wünschte immer schon nach kurzer Zeit das, was ich gerade NICHT hatte.
Ab 36 lernte ich endlich, dass es oft besser ist, die Dinge einfach kommen zu lassen, als angestrengt hinter etwas herzurennen, von dem man nur GLAUBT, es wäre eine Verbesserung. Ich übte mich im annehmen und hinnehmen, lernte, mich überraschen zu lassen von dem, was sich „von selber“ als Möglichkeit auftut. Machen, was unmittelbar anliegt, die Existenz kümmert sich um den Rest. Und tatsächlich: Auf einmal ging alles viel lockerer, es ergaben sich wirklich interessante Möglichkeiten, die ich nur einfach ergreifen musste – auch Schloss Gottesgabe hat sich „einfach ergeben“, Freunde luden uns (=meinen liebsten Freund und mich) ein, hierher zu ziehen….
Für all die angestrengten Konzepte, die Menschen in die Lage versetzen sollen, „Ziele zu verwirklichen“, hatte ich nur noch leisen Spott übrig. Woher sollte denn auch das Wissen kommen, was „das Beste“ für mich ist? Allzu oft war ich verrückten Vorstellungen nachgejagt, die sich nach ihrer Verwirklichung als selbstgemachte Hölle herausstellten. Das sprichwörtliche „Tun des Nicht-Tun“ schien mir eine viel sinnvollere Weise, im Leben aktiv zu sein, und doch auf nichts bestimmtem zu beharren, voller Vertrauen, dass das Richtige nicht in meinem Kopf geboren wird, sondern sich von selbst ergibt.
Und jetzt? Ich bin ‚erst‘ 46 und denke manchmal: War es das jetzt? Soll ich die restliche Lebenszeit, die – rein statistisch – noch einige Jahrzehnte umfassen könnte, einfach so weiterleben? ZUFRIEDEN altern?
Ich kenne keine Zufriedenheit, das Wort hielt ich immer für ein Schwindel-Ettikett, gut dafür, elende Kompromisse schön zu färben. Wo früher meine Unzufriedenheit war, da ist jetzt einfach GAR KEIN Gefühl. Und je länger diese Abwesenheit andauert, desto öfter frage ich mich (immerhin ganz ohne Stress): Was noch tun im Rest der Zeit?
Wenn ich es SO betrachte, dann fällt mir schon auf, dass ich ungern lebenslänglich arbeiten will, so von Autrag zu Auftrag. Aufträge und Projekte, die zwar schöne Aufgaben beinhalten, aber oft nicht viel mit mir zu tun haben. Am liebsten schreibe ich doch Diary oder experimentiere mit Webkunst, manchmal würde ich auch gerne etwas fördern, was ich für nützlich halte – und zwar OHNE selber gross Hand anzulegen.
Ich kann nicht ohne Arbeit leben, mein Temperament ist eher aktiv und nicht sehr kontemplativ, arbeiten ist für mich Spiel und Experiment, ich möchte es nicht missen. Aber vielleicht wäre es schön, keine Brot-Jobs mehr machen zu müssen? Schon gar, wenn ich mal gegen die 60 gehe? Eine erwähnenswerte Rente hab‘ ich nicht zu erwarten, dafür ist mein Arbeitsleben zu unstet, zu wenig auf Sicherheit und Regelmäßigkeit ausgerichtet. Irgendwann wieder arm zu sein, schreckt mich – materiell gesehen – nicht. Lange Jahre hab‘ ich „auf Sozialhilfeniveau“ bestens gelebt, da mir Konsum nichts bedeutet. Allerdings schätze ich mittlerweile die Bewegungsfreiheit, die man geniesst, wenn man nicht auf Mark und Pfennig achten muss – und ein paar Bequemlichkeiten sind auch ganz schön, z.B. hab‘ ich den Umzug hierher von einem Umzugsunternehmen abwickeln lassen und nicht mehr, wie früher, selber geschleppt.
Kurzum, da kommt er plötzlich auf, der Gedanke, den ich mein ganzes bisheriges Leben als verfehlt und „voll daneben“ angesehen habe: Warum nicht mal richtig Geld verdienen? Mein Wissen von der Welt und den Menschen auf Unternehmungen richten, die mal nicht der „Selbstverwirklichung“ dienen (offensichtlich liegt da gerade nichts mehr an), sondern dem gemeinen Geld-Erwerb? Einfach mal in diese Richtung denken, mit dem Ziel, die halbe oder ganze Million zu machen, um dann von den Zinsen leben zu können?
Na, das dauert sicher noch, bis ich diesen Gedanken zu Taten konkretisiere! Da muss ich mich erst dran gewöhnen….. ;-)
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