Der Regen tröpfelt auf das Oberlicht aus milchglas-artigem Hartplastik, das über der Wendeltreppe zwischen unseren beiden Wohnetagen viel Licht hereinläßt. Ich liebe diesen Sound, er hat etwas Beruhigendes und vermittelt das Gefühl: Kein Grund, etwas zu tun! Bleib drin, lies die Zeitung oder ein Buch, es gibt nichts zu tun.
Das stimmt natürlich nicht. So wenig ich derzeit Stress habe, gibt es doch ständig diesen „Rückstau“ von Vorhaben und angefangenen Projekten, dieses immerwährende Hintergrundgefühl: Eigentlich sollte ich jetzt… Im Grunde ist es aber gar kein Rückstau, sondern einfach die Tatsache, dass ich an längerfristigen Projekten beteiligt bin und nicht nur eilig eins nach dem anderen abarbeite (hau-ruck und fertig!). Das lineare Herangehen ist im Netz nicht durchzuhalten, eher bin ich ein Knoten in einem Geflecht vielfältiger Aktionslinien, durch die manchmal ‚Strom‘ fliesst, manchmal nicht. Die Arbeit als Netzwerkerin besteht dann aus:
- abchecken des Status der einzelnen „Drähte“: Was liegt an?
- reagieren, wenn es nötig ist, mal nur in Form von Kommunikation, mal durch „richtige“ Arbeit
- agieren, „stromlose“ Linien selber wieder mit Energie beschicken
- Knüpfen neuer „Drähte“ zu anderen Knoten
- Konzeptionieren und Aufbauen ganzer Netzbereiche, die es SO noch nicht gibt
- entsorgen / entfernen von abgestorbenen Bereichen: daran denkt man kaum, deshalb die vielen frustrierenden „Web-Leichen“.
Aus dem Netz gibt es kein Entrinnen mehr. Es ist kein „Job“, den man einfach mal wechseln könnte: Vor den Zeiten des Netzes dauerte mein längstes Engagement in der Arbeitswelt gut zwei Jahre, meist deutlich weniger. Doch seit Anfang ’96 baue ich am Netz und vermutlich werde ich nie wieder etwas anderes tun. Oder besser formuliert: ALLES, was ich tun werde, wird in Gestalt dieses Networking stattfinden – oder es wird NICHT stattfinden.
Klar, man kann mal Urlaub machen, fern vom Gerät. Doch mehr und mehr bemerke ich, wie meine Freunde und Kollegen dazu übergehen, per Laptop & Handy auch in ihren Auszeiten ansprechbar und aktionsfähig zu bleiben. Ganz wie die Zellen eines Körpers, die ja auch kontinuierlich ihre Aufgaben erfüllen müssen, um dem Ganzen nicht zu schaden.
Wenn man es auf diese Weise betrachtet, sieht man die Logik des Netzes, die sich mit überwältigender Macht und Geschwindigkeit in alle sozialen Prozesse einschreibt und diese nach Effizienz-Kriterien umorganisiert. Alles hängt mit allem zusammen – die uralte Mystiker-Erkenntnis wird durch das Netz technisch verwirklicht, ganz profan im Hier & Jetzt, und vor allem auch in jedem „dort“.
Stellt man sich – falsch, aber zu Überlegungszwecken spielerisch sinnvoll – das Netz als bewußte Intelligenz vor, als eine Entität, die wie jedes Wesen leben, wachsen und dominieren will, so ist klar, was das erste Ziel ist: Bestandserfassung, Inventur. Alles, was da ist, muss verdatet, in den Speichern übersichtlich repräsentiert werden. Dazu gehört zuvorderst, zu wissen, wo sich jeder Mensch gerade aufhält, sei es nun im physischen Raum oder im Cyberspace. Im physischen Raum wird das derzeit durch den Handy-Boom vorangetrieben: Ein angeschaltetes Handy ist recht genau ortbar. WAP und UMTS machen daraus den Netzzugang. Hinzu kommen Video-Überwachungen (plus möglicher Gesichtserkennung) an öffentlichen Orten und in öffentlichen Gebäuden, sowie die satellitengestützte Ortung im Strassenverkehr. Im Netz selbst sind Bestrebungen im Gange, die Internet-Protokolle so zu verändern, dass mit jedem Datenpaket, das wir versenden, auch eine Art „Ausweis“ mitreist. Im Grunde ist das nichts anderes als die Einführung der Ausweispflicht, wie wir sie im physischen Raum in den meisten entwickelten Ländern schon lange haben.
Die „Verortung“, die hier stattfindet, ist natürlich kein Selbstzweck, sondern dient dazu, jeden „Mitarbeiter“ erreichen zu können: Wo immer ich mich befinde, kann ich angesprochen (=nachgefragt) werden und meinerseits auf den Info-Pool und auf andere zugreifen. Als Dienstleister, als Kunde, als Mitwirkender im NoCommerce-Bereich, schliesslich als Bürger in Wahrnehmung der bürgerlichen Rechte. Klar, dass ein heftiger gesellschaftlicher Kampf um die ‚Zugangsdaten‘ im Gange ist, in dessen Rahmen sich klären wird, mit welchem Recht welche Privaten und welche staatlichen Organe zu welchen Zwecken auf den Einzelnen zugreifen dürfen. Strafverfolgung ist nur EIN Aspekt dieser Klärung.
Was geschieht sonst noch? Der nächste Schritt nach der Inventur ist natürlich die Rationalisierung. Das Rad braucht nicht immer wieder neu erfunden zu werden, ein Auto braucht nur vier Räder – nicht 25 oder 1800, die alle verschleissen, erneuert und gewartet werden müssen. Die Massenproduktion (Auflagen, Serien, Lagerhaltung, Absatzprobleme) findet in einer Welt vernetzter Individuen ihr Ende, zunehmend werden Produkte nur noch „on demand“ exakt nach den Wünschen des Kunden hergestellt und ausgeliefert werden, welch‘ immense Einsparungen! Praktisch jedes Unternehmen und jede Institution muss derzeit alle Arbeitsprozesse und Beziehungen netzgerecht umbauen, um in Zukunft noch dabei zu sein. Und das beschränkt sich nicht auf ein „innen“. Die große Fusionswelle, die Kooperationen, das „The Winner takes it All“-Phänomen auf den Märkten, die „Synergien“, die überall entdeckt und genutzt werden: Hier entsteht mitten im Kapitalismus der Geist der Planwirtschaft neu, den Menschen auf der politischen Ebene niemals befriedigend umsetzen konnten.
Als Kern des rechnenden Denkens, als Wesen der Rationalität, als unkaputtbar sinnvoller Gedanke in einer Welt begrenzter Ressourcen ist dies ein neuer, von niemandem gesteuerter Ansatz, die Dinge „vernünftig“ zu ordnen. Freiwillig haben wir es nicht hingekriegt, jetzt sehen wir uns dem Zwang von Seiten der selbstgeschaffenen Technik ausgesetzt. Gemütlich geht das nicht ab, umso weniger, je verschlossener sich viele gegenüber den Veränderungen verhalten, die doch ein kreatives Mitwirken aller benötigen, um ein menschliches Gesicht zu bewahren, bzw. überhaupt erst zu entwickeln.
Denn die Analogie vom „intelligenten Netz“ stimmt ja so nicht: Es ist unsere eigene Vernunft, unser eigener Ordnungssinn, unsere typisch menschliche Rationalität, die wir in Gestalt der Data-Sphere nach „aussen“ setzen, weil wir offensichtlich von innen heraus zwar vernünftig denken und meinen, aber uns im Reich der Taten in der Regel nicht einigen können. Zu unterschiedlich sind die jeweiligen materiellen und ideellen Interessen, kriegerisch und irrational verteidigen wir das je „eigene“ und schaffen es einfach nicht, im Sinne des begrenzten Ganzen (Planet Erde) zu handeln. Wenn aber eines Tages alle fusioniert und vernetzt sind, deutlich spürbar voneinander abhängen – was kommt dann?
Das Netz ist ohne Interesse. Es ist das „leere Boot“, über das sich kein Ruderer aufregt, wenn es zur Kollision kommt. Gut, ich ärgere mich schon mal, wenn ein Programm abstürzt – aber ich beginne nicht, es zu HASSEN und zu sabotieren.
All diese Überlegungen stelle ich für mich selbst an, um mal nicht die Probleme und Verwerfungen, die Leiden an den Veränderungen in den Blick zu nehmen, sondern mir vor Augen zu führen, was eigentlich passieren würde, wenn die reine Logik des Netzes sich durchsetzt. Es liegt ja nahe, sich bremsend und widerständlerisch zu engagieren, zum Beispiel im Kampf um „volle Anonymität“, gegen „SPAM“, gegen Kontrolle jeder Art, oder auch gegen die Zumutung, so viel wissen zu sollen oder so ortbar und erreichbar zu sein, wie es die Netzlogik braucht.
Bevor ich aber gegen einen Drachen kämpfe, der mich fressen will, möchte ich schon gerne wissen: Ist es überhaupt ein Drache? Will er mich wirklich fressen? Oder ist er nur eine Vorstellung, weil ich das Neue, so nie da gewesene einfach nicht erkennen kann und also Dämonen, Teufel oder auch Götter (Hype!) imaginiere?
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