Noch ein Huhn tot! Diemal war es ein kleiner Hahn, der vom Hund gefressen wurde, nachdem er sich durch eine Lücke unter der Tür aus dem Hühnergehege befreit hatte. Traurig, selbst die Hühner hat es mitgenommen, sie haben gestern durchweg keine Eier gelegt. „So regelt alles die Natur“, sagt der Nachbar, und ist froh, den Hahn demnächst nicht selber schlachten zu müssen, wenn er alt genug gewesen wäre, mit dem alten Hahn Stress zu bekommen.
Natur? Nichts ist hier Natur: nicht die Hühner, die auf Hochleistung (täglich ein Ei) gezüchtet sind, und auch nicht nicht der Neufundländer, dessen Augen einen typischen „Zuchtschaden“ aufweisen und oft tränen. Die Apfelbäume, die zur Zeit unter der Fülle an Äpfeln fast zusammenbrechen, sind hoch-optimierte Produktionsanlagen, und die Lilien und andere von Mietern gesetzte Blütenpflanzen wachsen verläßlich zu exakt dem spektakulären Anblick heran, den man aus den Gartenprospekten kennt.
Apropos Garten: Als ich vor einem guten Jahr hierher gezogen bin, dachte ich natürlich daran, ein bißchen zu gärtnern. Platz ist ja genug. Doch schon zwei Versuchsbeete (Salat, Mangold) und ein kleines Erdbeerfeld machen derart viel Arbeit, dass ich davon abgekommen bin. Die Beete gegen Schnecken, Hunde, Vögel, Maulwürfe und Kinder zu verteidigen und vor dem völligen überwuchert werden zu retten, ist aussichtslos, wenn man nicht alles durchrationalisiert, den Garten umzäunt und täglich „nach dem Rechten“ sieht. Nächstes Jahr werden wir vermutlich nichts mehr pflanzen.
Wozu auch? Die Erdbeeren, die da jetzt wachsen, sind die teuersten Erdbeeren meines Lebens. Mehrere Packungen Schneckenkorn zu je 18 Mark waren nötig, um überhaupt etwas gegen die schleimigen Nacktschnecken auszurichten, die zu Heerscharen das Gebiet bevölkern und alles nieder fressen. Ganz zu schweigen von der Arbeitszeit!
Der tiefere Grund aber, warum mir der Garten gestohlen bleiben kann, ist ein anderer: Es fasziniert mich nicht, irgendwelche Samenpackungen, Stauden oder Zwiebeln im Gartencenter einzukaufen, vorschriftsmäßig zu düngen und zu pflegen, um schließlich ein Ergebnis zu bekommen, das – ja, wirklich! – ganz genauso aussieht wie die Prospekte. Eine riesige Gartenbedarfs-Industrie versorgt den Hobby-Gärtner mit allem erdenklichen Schnickschnack, von den verläßlich und berechenbar wachsenden Pflanzen bis hin zur richtigen Outdoor-Kluft. Einen Garten machen ist so zwar immer noch aufwendig, aber im Prinzip nicht viel anders, als zum Kuchenbacken eine Backmischung zusammenzurühren. Da kauf ich lieber gleich einen Fertig-Kuchen und mach‘ mir nichts vor von wegen „Natur“.
Sehen, wie etwas „von selber“ wächst – das war der ursprüngliche Reiz, der mich schon als Kind in Entzücken versetzt hat. Eine großartige Blüte zum Beispiel stellte ich mir als Ausnahme, als Belohnung für viele Fehlschläge vor. Keine Rede! Es keimt und wächst alles GARANTIERT wie auf der Packung angegeben.
Warum nur diese Gefühle des Überdrusses? Ist es nicht wunderbar, dass es Menschen gelingt, alles zu verbessern? Das Chaotische in berechenbare Ordnung zu bringen, verläßliche Erträge zu garantieren, Fehlschläge zu minimieren und beliebige Formen zu erzeugen, ganz nach der jeweiligen Mode? Ich muss an die Sage vom König Midas denken, dem alles, was er berührte, zu Gold wurde – bis er verhungert ist.
Wonach suchen wir? Ist es nicht immer wieder das Unbekannte, Unberechenbare? Das, was „von selber“ schon da ist, bzw. über uns hereinbricht, ohne dass je ein Mensch mit seinem ach so effektiven Verstand die Dinge in Richtung überschaubar, ergonomisch nutzbar und totlangweilig optimiert hat? Was wollen denn all die fernreisenden Menschen, die jedes Jahr in Scharen weniger zivislisierte Gebiete aufsuchen? Was reizt am Bungie-Springen oder an den Extrem-Sportarten? Und schließlich: Woher diese Lust an Katastrophenfilmen, an Bildern von Gewalt und Grausamkeit?
Etwas in uns ist wild, durch nichts zivilisierbar, allenfalls ins Unbewußte abzudrängen. Je rationaler und verregelter die Welt, desto größer die Sehnsucht nach dem „ganz anderen“. Aber wenn wir auch nur ein Stück davon irgendwo finden, beginnen wir sofort, auch da Ordnung zu schaffen, das Unberechenbare zurückzudrängen und alles hübsch effektiv zu optimaler Nützlichkeit umzuformen. Es ist völlig absurd – sogar ernstlich verrückt! – und es deprimiert mich, das in mir selbst genauso wahrzunehmen, wie an allen anderen, bzw. in der Gesellschaft.
Jetzt, nachdem Tiere und Pflanzen, Landschaften und soziale Prozesse, Produktion, Verbrauch und Entsorgung „im Prinzip“ durchrationalisiert sind, greift der Apparat aus Technik, Wissenschaft & Wirtschaft nach dem Menschen selbst: hier ist noch jede Menge zu optimieren, packen wir’s an!· Ein Mensch wird dann endlich auch nicht mehr „von selber“ der sein, der er ist. Man wird mit den Schultern zucken und feststellen: Tja, er ist halt ein Microsofti… – oder auch bewundernd: He’s a Sony!
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