Endlich Sommer! Seit vorgestern mittag bin ich dem Gerät fern geblieben, eine ungewöhnlich lange Zeit. Auch jetzt – es ist 7 Uhr zehn – schreib‘ ich erstmal Diary, bevor ich einen Blick in die Mailbox wage: Zu viele verschiedene Dinge könnten auf mich einstürmen, mit dem Ergebnis, dass ich mich auf das Schreiben nicht mehr konzentrieren kann, weil allzuviel ‚einfällt‘, um noch etwas auswählen zu können. „Sich verzetteln“ hiess das, als man noch mit Papier arbeitete.
Im „Weltspiegel“ der ARD zeigten sie gestern Ausschnitte aus dem amerikanischen Wahlkampf. Wie schwer es Al Gore hat, als etwas hölzerner und wenig emotionaler Typ Punkte zu machen. Wie man dem durch sorgfältig inszenierte Auftritte mit Familie oder in der Heimatstadt entgegen steuert, wo er sich als „Junge von nebenan“ gerieren muß. Keine Rede von Politik, keinerlei „Programme“, es geht darum, zu zeigen, WER Al Gore ist, das interessiert das amerikanische Volk sehr viel mehr als das, was er zu diesem oder jenem Gegenstand aus der Weltpolitik denken mag.
Uns Europäern mutet das etwas seltsam an, die Wahlkampffeste werden kritisiert und bespöttelt, weil so wenig INHALTE vorkommen und statt dessen die grosse Selbstdarstellungs-Show des Kandidaten abläuft. „Wird er für uns da sein?“, fragen sich die Wähler und beurteilen das nach ganz unterschiedlichen Kriterien, nicht aber nach „Programmen“.
Mir scheint, es gibt da nichts zu spotten. Was hier abläuft, ist „Politik des Vertrauens“ und nicht mehr des „Diskurses“. Breite Kreise haben es offensichtlich aufgegeben, daran zu glauben, sie könnten sich in der schnellebigen globalisierten Welt zu allen wichtigen Fragen eine profunde Meinung bilden. Also setzen sie konsequent darauf, möglichst vertrauenswürdige Personen an die Spitze zu bringen und die Kandidaten tun alles, um sich als Politiker „zum Anfassen“ zu präsentieren. Die „Wahlkampf-Maschine“ wird manches in hellem Licht strahlen lassen und anderes verschweigen, also durchaus verfälschend wirken. Da allerdings auch die Gegner das Vorleben intentsiv durchleuchten, sind der Manipulation Grenzen gesetzt. Der Kandidat wird transparent gemacht, mit allem, was er ist und was er war, damit jeder beurteilen kann, ob er nun wirklich ein „good guy“ ist.
„Wissensgesellschaft“ ist, wenn das Wissen aus den Gehirnen aus- und in Festplatten und Datenbanken einwandert. Genau wie das Zeitalter der Mobilität dadurch gekennzeichnet war, dass die Menschen das Selber-Laufen aufgegeben haben und in die Autos (auto=selbst) gestiegen sind, so bedeutet „Informationsgesellschaft“ den Abschied vom Selber-Wissen, Selber-Urteilen, Selber-wählen. Nichts geht mehr ohne den Zugriff auf die Datenbanken, ohne kundiges Suchen & Finden, und wer glaubt, man hätte alle Zeit der Welt, um stets über alles „informiert“ zu sein, ist ein Phantast.
Was bleibt also übrig? Wenn etwas zu entscheiden ist, das ich nicht überblicke, frage ich gute Freunde oder Leute, deren öffentlich vermittelter Eindruck mir sagt: Dem kannst du trauen! Und ich verhelfe – sofern ich Gelegenheit habe – Leuten zu Ämtern und Funktionen, von denen ich denke: die werden ihren Job aus bestem Wissen und Vermögen machen und vermutlich nicht korrupt sein. Der ‚Vater von Linux‘ als Direktor der ICANN? Aber klar!
Dieses Vertrauen ist ein Kapital, das man nicht allein durch „gute Sacharbeit“ erwirbt, sondern indem man sich möglichst als ganzer Mensch zeigt, mit ganz vielen „Kontaktpunkten“, die Vertrauen ermöglichen, weil sie Verbundenheit signalisieren: Aha, er ist ein Natur-Fan, er mag die Toskana, er trägt am liebsten Jeans, er fährt auf diese oder jene Musik ab – genau wie ich! So einer kann eigentlich kein Arschloch sein….
Selbstverständlich kann man sich gewaltig irren, indem man jemandem persönlich vertraut. Man kann betrogen werden, ohne Frage. Aber das ist dann nicht viel anders, als wenn man dem „Wissen“ vertraut hätte: Wer sagt denn, dass es nicht FALSCH ist? Dass die Quellen nicht veraltet sind oder bewusst einseitig informieren? Dass nicht schon die Daten gefälscht oder falsch interpretiert wurden?
Firmen und Institutionen haben es schwer in der heraufziehenden Vertrauensgesellschaft. Kümmern sie sich um blosse Profitmaximierung, schaffen sie Vertrauen bei den Aktionären, nicht aber beim Kunden oder Mitarbeiter. Doch gerade mit diesen soll das Geschäft doch gemacht werden – eine Zwickmühle. Erschwert wird die Sache noch durch das Netz: Jeder kann sich anhand der Website eines Unternehmens einen guten Eindruck verschaffen, ob der Laden vertrauenswürdig ist. Je mehr und länger das Web genutzt wird, desto vielfältiger und treffender werden die Kriterien, die man hier anlegt: Sehe ich Namen und Gesichter oder bloss eine nichtssagende Mail-Adresse? Bekomme ich binnen kurzer Zeit Antwort von einem Menschen, wenn ich hinschreibe? Finde ich nur vorgestanzte Formulare, oder werde ich ermuntert, mich zu allem und jedem einfach zu Wort zu melden, wenn ich etwas sagen will? Spricht die Firma eine menschliche Sprache oder verliert sie sich in wolkigem Marketing-Blabla und endloser Selbstbeweihräucherung?
„Trau, schau, wem?“ sagten unsere Grossmütter. Wir werden uns der Frage in Zukunft bewusster zuwenden müssen. Vielleicht reicht es ja, durchgeknallte Egoisten aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen, ganz pragmatisch auf konkrete Menschen zu setzen, anstatt „am Werteverlust zu kranken“. Was meint Ihr?
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