Was ist eigentlich konkret gemeint, wenn immer wieder vom „Werteverlust“ die Rede ist? Das wolkige Wort fällt, wenn Eltern und Lehrer mit ihren Kids nicht fertig werden, wenn Jugendliche durch die Straßen marodieren, wenn sich Gewaltexzesse und Amok-Läufe häufen, die wir nicht mehr erklären, schon gar nicht stoppen können. Das Wort passt aber auch gut auf das Hauen & Stechen im Geschäftsleben, wo immer mehr „mit allen Mitteln“ um den je eigenen Vorteil gekämpft wird, beginnend beim Nichtzahlen der Rechnungen bis hin zur Bedrohung, Bestechung, Erpressung, Denunziation und zum Ausstreuen falscher Gerüchte über Konkurrenten. Über Politiker noch etwas zu sagen, erspar ich mir jetzt mal, und auch der Gemeinplatz, dass die Medien aus Quotengründen übelste Primitiv-Emotionen ausschlachten und verstärken, sei nur der Vollständigkeit wegen erwähnt und abgehakt.
Ich erinnere mich an die Zeiten der Friedensbewegung, damals hatte sich ein CDU-Politiker getraut, zu sagen, Friede sei nicht der oberste Wert. Keine Frage, dass der sprichwörtliche „Sturm der Entrüstung“ über ihn hinwegfegte, auch ich fand das Statement ungeheuer, immerhin hatten wir gerade alle Angst, gleich nach der Stationierung der Pershing 2 gehe der dritte Weltkrieg los. Und dieser Eumel wagt sich zu sagen, Friede sei nicht das Wichtigste!
Warum mir das jetzt einfällt? Mir scheint, in den letzten Jahrzehnten – also den großen Zeiten des Sozialstaats und der Sozialarbeit – haben wir uns den Luxus einer schönen Illusion geleistet: Dass der „Grundzustand“ im menschlichen Miteinander ein friedlicher sei und alles, was von dieser „Normalität“ abweicht, durch bedauerliche Sonderbedingungen verursacht und therapeutisch behandelt werden muss.
Diese Denkfigur ist einerseits historisch bedingt: Nach dem Krieg waren alle wirklich sehr sehr friedlich, hatten die Nase so richtig voll. Zum Aufbau wurde jeder gebraucht und man war sich einig im Streben nach Wohlstand. Die dann folgende 68er-Kulturrevolution, die Hippie- und die Frauenbewegung brach alle noch verbliebenen Verkrustungen auf. Zwar ist die politisch-radikale Linie in Gestalt der RAF im Folgenden katastrophal gescheitert, doch die eher kulturellen Impulse waren durchdringend. Talare, Anzüge und Krawatten, Verbotsschilder auf Rasenflächen und Konventionen aller Art landeten auf dem Müllhaufen der Geschichte. Friede, Freude, Entspannung und Harmonie sollte herrschen, freie Liebe zu allererst. Solidarität statt Konkurrenz – man konnte sich’s leisten, denn die allseits kritisierte Wirtschaft verdiente auf dem Weltmarkt in aller Stille genug für alle und gab sich mit unter 5% Rendite zufrieden.
Natürlich merkte mensch schnell, dass nicht nur DIE ANDEREN nicht immer so friedlich sind, wie sie laut neuer Vorgabe sein sollten. Die große Zeit der Selbsterfahrung und Psychotherapie war der Versuch, sich selber umzuerziehen. Das vielfältige Scheitern daran führte viele in die spirituelle Suche, wo sich ebenfalls ein breiter Markt entwickelt hat. Erwähnenswerte letzte Formen dieser Bewegung sind einerseits die Tantra-Szene, wo das konfliktreiche sexuelle Erleben meditativ befreit werden soll, um ein lustvolleres Leben zu ermöglichen und andrerseits die Satsang-Bewegung, wo gemeinsames „Sitzen in Stille“ die Erfahrung aufschliessen soll, dass doch alles schon gut so ist, wie es ist: Sich-ergreifen lassen vom Ereignis das DASEINS, wodurch das Rennen in Richtung MEHR obsolet wird.
Alles schön und gut, doch wenn man sich mit wachen Augen umsieht, kann man nirgends erkennen, dass diese oder andere Aktivitäten die Situation auch nur ankratzen. Das Zunehmen der Gewalt, die allgemeine Verrohung, das Wegsehen und Abdriften in Unterhaltung und abgeschottete Fantasiewelten, das, was immer neu die Diagnose „Werteverlust“ rechtfertigt, ist offensichtlich SEHR resistent. Das NICHTS breitet sich aus, mit Michael Ende gesprochen.
Warum fällt es so schwer, diesem vermeintlichen Nichts etwas entgegen zu stellen? War das Besondere am Menschen nicht immer schon seine Anpassungsfähigkeit, das intelligente Reagieren auf neue Probleme? Kann es vielleicht sein, dass die jahrzehntelang gepflegte Illusion der grundsätzlichen Friedlichkeit uns ausserstande sein läßt, die zunehmende Unfriedlichkeit in erträgliche Bahnen zu lenken?
Ein ergiebiger Gedanke! Wer Kampf grundsätzlich ablehnt, entwickelt und tradiert keine Ethik des Kämpfens. Ganz konkret: Den Kindern wird allenfalls von bemühten Lehrern, Erziehern und Eltern gesagt, sie sollen NICHT zuschlagen, sie sollen gefälligst friedlich spielen und teilen. Ein aufgewecktes Kind kann da doch nur mit dem Kopf schütteln und steckt lieber den Schlagring ein, um sich oder seine Marken-Jacke auf dem Schulweg zur Not verteidigen zu können. Als Lernfeld für den Kampf stehen ihm aufgrund der erzieherischen Abstinenz allenfalls Filme und Video-Spiele zur Verfügung, in denen die brutalste Vernichtung des Anderen zelebriert wird – warum wundern wir uns also über die Formen, die der Kampf annimmt?
Unter Erwachsenen sieht es nicht besser aus: Unüberbrückbare Interessengegensätze werden gern geleugnet. Man glaubt, sich VERSTEHEN brächte automatisch ein friedliches Miteinander, man müsse nur miteinander reden und sich dann vernünftig einigen. Dass das nur geht, solange genug für alle da ist, wird schlicht verdrängt. Sogar neueste Unternehmensführungskonzepte vermitteln den Eindruck, es sei immer möglich, eine Win-win-Situation zu erzeugen, in der alle Teilnehmer etwas für sich gewinnen und niemand verliert.
So geraten viele in eine schizophrene Spaltung: Auf der Ebene des Redens & Schreibens gilt die „friedliche Linie“, in der Realität muss jeder sehen, wo er bleibt, sich möglichst effektiv verteidigen oder wenn nötig auch angreifen. Und dabei allein mit sich ausmachen, wie weit er (oder sie) für welches Ziel zu gehen bereit ist. Der faktisch unvermeidliche Bruch mit der allgemeinen Ideologie führt in ein Vakuum: Ausserhalb des Erlaubten, bzw. vermeintlich Normalen scheint alles erlaubt, jeder marodiert also auf die je eigene Weise auf seiner jeweiligen Kampfzone vor sich hin. Ob „gut“ oder „schlecht“, darüber gibt es weder Gespräch noch Konsens, also zählt allein der Erfolg.
Muss das so bleiben? Es hat doch mal eine Ethik des Kämpfens gegeben, von wem und wohin ist die eigentlich entsorgt worden? Vielleicht einfach mangels Nachfrage vergessen, weil wir schliesslich ohne Waffen Frieden schaffen wollten?
Als ich ein Kind war, galt es als feige, zu mehreren auf einen einzuschlagen, genauso wie das „Nachtreten“ verpönt war. Sobald der Gegner signalisierte, dass er aufgibt, musste abgelassen werden – und die meisten hielten sich dran, Ausrutscher wurden als Ausrutscher gesehen, man schämte sich für sie. Auch der westliche Mann hatte mal eine Ethik des Kämpfens: Fairness, Waffengleichheit und viele andere Konventionen und Traditionen regelten die an-stehende (=die „anständige“) Auseinandersetzung – vom Duell bis hinein ins Kriegsrecht.
Wenn heute Politiker fordern, jeder Einzelne müsse seine Zivilcourage wiederentdecken und gewalttätigen Jugendlichen mutig entgegen treten, dann markiert das eine Wende. Jedem ist ja klar, dass es sich hier nicht nur ums Worte-machen dreht, wenn auch der Griff zum Handy gewiß das erste Mittel der Wahl ist. Auch ein Lehrer hat heute vielerorts ein schlechtes Standing, wenn er nicht zumindest glaubhaft den Eindruck vermittelt, er könne sich zur Not auch gegen körperliche Angriffe zur Wehr setzen. Die friedlichen Zeiten sind offenbar vorbei, warum also nicht das Kämpfen wieder lernen?
Kampfsport an den Schulen von der ersten Klasse an wäre ein guter Ansatz. Und zwar nicht nur Techniken, sondern auch die jeweilige geistig-ethische Tradition – gerade die östlichen Kampfsportarten haben da viel zu bieten und sind zudem bei vielen Kids und Jugendlichen hoch angesehen. Wer von klein auf eine Praxis körperlicher (!) Auseinandersetzung übt, entwickelt ein tiefer gelegenes Selbstbewußtsein, als es durch das Beherrschen der Schrift oder verschiedener Geräte zu haben ist – und zittert vielleicht auch nicht automatisch beim Anblick von ein paar Glatzen. Ganz nebenbei würde mittelfristig der Gesundheitsetat erheblich entlastet, alle wären gesünder, schlanker, fitter, wahrscheinlich auch wacher, und wüßten besser, wohin mit ihrer Energie. Einen Versuch wäre es jedenfalls wert.
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