Im Forum schrieb Andreas K. zum Stichwort „Schwarze Stimmung“:
„Claudia, ist es möglich, daß Du wie ich unter einer ganz speziellen Angst leidest – der Angst vor dem (vorerst relativen) Alter? Ich „ertappte“ Dich in Deinen Artikeln jetzt schon zum zweiten Male bei Formulierungen, die mich zu dieser Annahme verleiten, und ich fürchte, da haben wir etwas gemeinsam – ich habe etwas Angst vor dem Ende der Jugend.“
Wie ein dummes Computerprogramm würde ich jetzt gerne zurückfragen: „Sind Sie sicher?“ Woher kommt die Anmutung, vor so etwas abstraktem wie dem ALTER, bzw. dem „Ende der Jugend“ Angst zu haben?
Mit meinen 46 Jahren weiss ich, dass die Jugend lange hinter mir liegt, einerseits. Andrerseits empfinde ich sowas wie „Alter“ nicht, es ist nur ein Wort, eine Vorstellung, eine Überschrift unter der wir alles sammeln, was uns im Blick auf konkrete alte Menschen schrecklich erscheint: Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Häßlichkeit, Schwachheit, Verbitterung, Senilität.
Es wirkt arrogant und unglaubwürdig, zu sagen: Ich habe keine Angst vor dem Alter. Und jedes Mal, wenn ich mir die Frage stellte und diese Antwort vernahm, glaubte ich mir selber nicht so recht, fast spürte ich eine gesellschaftliche Pflicht, Angst vor dem Alter zu haben und der allgemein auf jeden Sockel gestellten JUGEND nachzutrauern.
Was ich wirklich fühle, hat mit alledem wenig zu tun. Das, was in mir denkt und beobachtet, hat sowieso kein Alter. Es verändert sich zwar ständig, was die Inhalte angeht, doch ist es als Beobachterfunktion, als reines Bewußtsein, immer gleich. Was sich verändert ist Körper und Psyche. Der Körper regeneriert sich langsamer, nicht mehr jeder Exzess ist ihm zuzumuten: Wenn ich mich heute betrinke, leide ich die zwei folgenden Tage an den körperlichen und psychischen Nachwirkungen – besser also, ich lasse es. Das fällt umso leichter, als ich in diesem Leben vom Alkohol wirklich alles gehabt habe, was man von einer Droge mitnehmen und lernen kann. Auch viele andere hab‘ ich ausprobiert, jedem Geheimnis und jedem Versprechen bin ich nachgegangen, nicht nur, was Drogen angeht.
In jungen Jahren suchte ich das „Heil“ oder auch die „blaue Blume“ bei den Männern, in der Sexualität. Danach war einige Jahre Politik dran, ich wollte die Welt retten, mindestens. Dabei erschloß sich mir erstmalig die Welt der Arbeit, die mir vorher so langweilig erschienen war. Ich arbeitete ohne Pause und war glücklich, meine Fähigkeiten zu entdecken und anzuwenden, anzuwenden in Angelegenheiten, die für mich Sinn machten. Im nachhinein hat sich vieles davon als große Dummheit, als Illusion, als blosses Schuften aus Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis herausgestellt, aber darauf kommt es nicht an. Sondern darauf, seinem jeweiligen Dämon zu folgen.
Seit einigen Jahren nun ist da kein Dämon mehr, ein seltsames Gefühl, richtig gewöhnungsbedürftig. 1995/96 hat mich nochmal kurz der Internet-Hype ergriffen: Ein „neues Land der Freiheit“ schien es zu erschließen, weil die Zwänge und Härten des Alltags in den Netzen noch keinen Eingang gefunden hatten. Es gab eine neue Spielwiese und die Menschen waren entsprechend nett zueinander. Die Desillusionierung, die bald schon folgte, war – verglichen mit den anderen Desillusionierungen in meinem Leben – relativ locker wegzustecken. Und so langsam – endlich! – erlebe ich mich als in der Realität angekommen. Ich könnte das auch als Prozess des Alterns darstellen: Vorstellungen, Wünsche, Träume zeigen sich als das, was sie sind: Vorstellungen, Wünsche, Träume. Eine geistige Automatik, die durch Verwirklichungen niemals zufrieden gestellt wird, sondern immer neue Vorstellungen erzeugt. Das zu sehen bedeutet, nicht mehr automatenhaft in Begeisterung für dieses oder jenes Ziel oder Vorhaben zu verfallen – aber auch nicht mehr in Furcht und Schrecken.
Mit zwanzig hab‘ ich engagiert Schach gespielt. (Es war mir ernst, denn im Grunde kämpfte ich für mein Geschlecht, so als eine von ganzen zwei Frauen in der „Regionalliga Süd“.) Bei jedem Zug des Gegners denkt man: WAS DROHT? und nimmt dann diese Drohung vorweg, stellt sich darauf ein – und je rationaler man das tut, desto effektiver und erfolgreicher ist es. Dies vom Schach auf das Leben übertragend fragte ich mich ab da immer: Was droht? Und stellte mich dann weitestmöglich auf das Worst-Case-Szenario ein, um möglichst frei von diffusen Ängsten agieren zu können. Einen Beziehungskonflikt vom Zaun brechen? Warum nicht, wenn man fähig und bereit ist, auch alleine zu leben. Im Geschäftsleben einen Prozess riskieren? Warum nicht, im schlimmsten Fall droht der Verlust aller Vermögenswerte und Einkommen – na und? An der eidesstattlichen Versicherung ist noch niemand gestorben.
Das Sterben allerdings wird auch Bill Gates nicht verschonen. Und so hat alles bewußte Leben AUCH die Farbe der Angst. Das Alter schreckt mich nicht, denn immer werde ich bei mir sein und nichts zwingt mich, zu denken, dass mein Alter genauso sein wird wie das meiner geistig und körperlich unbeweglich im Sessel sitzenden verstorbenen Großmutter (schon das Alter meiner Eltern war/ist erheblich besser!). Ich genieße das Älter-werden von Tag zu Tag mehr: nicht mehr von Ehrgeiz zerfressen, nicht mehr voller Furcht, irgendwo nicht „anzukommen“, nicht mehr „cool“ sein müssen, ja, wozu denn? Allermeist fühle ich mich gelassen und entspannt und wenn etwas dieses Gefühl stört, scanne ich aus alter Gewohnheit meine Realität mit der Frage: Was droht? Wo ist der Feind?
Seit Jahren lebe und arbeite ich selbständig – und zwar NICHT mit dem Ziel, möglichst viele Aufträge zu haben und jede Menge Geld zu verdienen, sondern um genug freie Zeit für Dinge zu haben, die mir Freude machen, bzw. mit genau diesen „freudvollen Aktivitäten“ mein Geld zu verdienen. Das ist natürlich nicht völlig stressfrei, es gibt Termine, Verpflichtungen, im schlimmsten Fall auch mal psychisch belastende Auseinandersetzungen und Verstrickungen (die ich dann schnell wieder abbaue, auch mit Verlusten, wenn es nicht anders geht). Und so kommt es, dass ich auch in dieser relativen Freiheit immer einen „Grund der Angst“ hatte: ein unsicheres Gefühl, ein Empfinden leichten Bedroht-Seins – aha, es ist der einzuhaltende Termin, der mich drückt, oder die langweilige Arbeit, die ich bis zum geht-nicht-mehr vor mir herschiebe. So dachte ich, so denke ich allermeist.
Seit ein paar Wochen jedoch bin ich ganz frei. Genug gearbeitet, um einige Monate einen ruhigen Lenz zu schieben, mich nach Lust & Laune eigenen Projekten zu widmen: der immer herbeigewünschte „Optimalzustand“, den ich bisher nur aus Zeiten gut bezahlter Arbeitslosigkeit kannte. Zwar sind da noch kleine Pflichten, zum Beispiel eine Autorenseite, die ich zugesagt habe – aber das sind SCHÖNE Aktivitäten, die keinen unangenehmen Druck verursachen.
Und trotzdem fühle ich immer noch eine diffuse Unsicherheit. Keine spektakuläre Angst, kein Zittern und Zagen, es ist eher ein untergründiges Gefühl, das immer überdeckt war durch Aktivitäten, bzw. dadurch, dass ich immer meinte zu wissen, VOR WAS ich gerade Angst habe. Nun spüre ich das Gefühl ganz von Ursachen isoliert, eine Empfindung im Bereich des Solar Plexus. Und ich scanne mein Leben („was droht?“), finde keinen Feind, keinen Termin, keine Drohung, keine Krankheit, nichts – und doch ist das Gefühl da.
Das erinnert mich daran, dass es mir mit dem Sex genauso gegangen ist. Ich erlebte sexuelle Erregung, Geilheit, Verlangen als ein Problem, das nach einer Lösung schreit. ( = erfülltes Sexualleben in liebevoller Zweierbeziehung, zum Beispiel). Eine Aufgabe, die ich mit anderen Menschen irgendwie positiv bewältigen muss, ansonsten wäre ich eine Versagerin. Doch in den letzten Jahren ist mir aufgegangen, dass das ein Irrtum ist. Indem ich mich beobachtend auf das Gefühl konzentrierte, ohne etwas „damit anfangen“ zu wollen, konnte ich sehen: Sex ist ein Aspekt der Energie, die mich lebendig sein lässt. IMMER spürbar, sobald ich entspannt genug bin, um die Empfindung zuzulassen. Just a human feature – genau wie die ANGST.
Je weniger ich wünsche und plane, je seltener mich irgendwelche Vorstellungen von Zukunft zu wilden Aktivitäten verlocken, desto deutlicher zeigt sich der Grund. Das, was da ist, wenn ich nicht herumwusele wie eine Irre: der Boden der Wirklichkeit. Und der ist gar nicht so schlecht, birgt sogar einen Hauch von „blauer Blume“, solange ich nicht daran arbeite, eine seiner Farben auszuschließen, zum Beispiel die Farbe der Angst.
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