Ein Besuch in der Psychatrie im Kreuzberger Urbankrankenhaus ist eine Reise in eine fremde Welt. Das Krankenhaus ist schon optisch eine Beleidingung. Einer dieser typischen Betonklötze der 70er Jahre, die von weitem alle wie Parkhäuser aussehen und im Lauf der Zeit die Farbe schmutzigen Schnees annehmen. Doch in den „Neubau“ muß ich ja nicht, die Psychatrie ist im Altbau, Gründerzeitbauten, freundlich verklinkert, jedes maximal zwei Stockwerke hoch.
Ein kühler Krankenhausflur, rechts und links kleine Räume, Zweibettzimmer sind Luxus und es gibt nur ein Einzelzimmer, für die „ganz schweren Fälle“, wie meine Freundin, wegen der ich hier bin, mir erläutert. Überall hängen die Werke aus der Beschäftigungstherapie an den Wänden, der Aufenthaltsraum für Raucher ist doppelt so groß wie der für Nichtraucher. Wir sitzen alleine im Raucherraum, es ist nicht viel los auf der „Offenen“, die Leute nehmen ihre Kurstermine war oder verlassen die Klinik – man hat hier fünf Stunden Ausgang pro Tag. Ein Telefon für die Patienten gibt es nicht, sie müssen schon an die Zelle gehen, eine Telefonkarte dabeihaben – Selbständigkeit ist angesagt auf der „Offenen“.
Als ich vor einer Woche die „Geschlossene“ erlebte, war es wie das Eintauchen in eine schützende Gebärmutter. Der Flur etwas dunkler, doch überall vor den Zimmern Tische, die Kranken an den Tischen sitzend, Brettspiele spielend, Besuch empfangend, auf dem Flur hin und herlaufend – oder auch telefonierend am Apparat, der an der Wand hängt, zur freien Verfügung für alle. Ab und zu freundliche Menschen in Dienstkleidung, die die Aschenbecher leeren, allerlei Tischmüll bereitwillig entsorgen und immer freundlich fragen, ob man etwas wünsche.
Hinzu kommt eine Anmutung von Ausnahmezustand, Dauerparty: alles kann geschehen, schließlich ist hier Psychatrie und die Wirklichkeit ist nicht so festgefügt, wie sie für „Gesunde“ scheint. Eine Griechin, die ich auf Mitte 50 schätze, geht in einer schief-verzogenen Schräghaltung durch den Gang und macht von Zeit zu Zeit an einem der Tische halt, streichelt einen der dort Sitzenden – auch mich geht sie an, ich sage „hallo!“ und lächle und fasse sie kurz an – weiß aber nicht so recht, ob das ok ist. Sie kommt noch öfter, lebt überall ihre Anfaßlust aus und alle nehmen es gelassen. „Sie kann aber auch agressiv werden“, warnt mich die Freundin, doch das ändert nichts daran, daß ich die ganze Sache hier angenehm locker finde. Ein Ort, dafür gemacht, sich völlig fallen zu lassen. Schade, daß man erst einen Selbstmordversuch machen muss, um in so einen Rraum zu komme!
Zum Abendessen – ab 16.45! – ziehen wir in den Nichtraucherraum um, eine junge Frau setzt sich zu uns, ein Gespräch beginnt. Die beiden reden über ihre Psychosen, ihre „Suizidversuche“ und ihre Medikamente. Offenbar haben diese Medikamente neben den Nebenwirkungen auch Wirkungen, sagen sie. Beide sind sie Psychopharmaka-Gegnerinnen und blicken auf eine lange Geschichte der Verweigerungen zurück. Doch jetzt, dieses Mal, sind sie froh, daß die Tabletten wirken. Man muß sie nur lange genug nehmen, bemerkt die Fremde am Tisch, die hier ist, weil sie aus dem fünften Stock springen wollte. Liebeskummer, Beziehungsdrama, genau wie bei meiner Freundin: Wenn die Welt nicht so ist, wie ich sie mir wünsche, dann muß ich eben gehen….
Die Wirkung der Medikamente ist deutlich zu sehen. Nicht nur in den starren, aber ruhigen Körperhaltungen – auch die Augen sehen mich an, auf die gleiche Weise wie mitten im psychotischen Schub oder auf Droge. Dieser tief dringende Blick, so bedeutungsvoll, als wolle sie auf den tiefsten Grund der Seele blicken – dabei erzählt sie, während sie mich so ansieht, von der Frühgymnastik.
Vom Leiden nicht absehen können
Was ist Psychose? Soweit ich es zu verstehen meine, weigert sich etwas in mir, es Krankheit zu nennen. Ich erlebe Psychose bei meiner Freundin als eine Unfähigkeit, sich vom Leiden abzuwenden, wenn es unerträglich wird, verbunden mit der UNWILLIGKEIT, das auf nicht destruktive Weise auch nur zu versuchen. Dieses Festkleben am Elend, am Leid, am Problem – im Grunde ein Zug, den unsere ganze Gesellschaft teilt und in dem ein Punkt erreicht werden kann, wo es keine Wahl mehr gibt. Das nennt man dann Krankheit. Ganz ähnlich, wie beim Alkohol: trinken ist normal, aber wenn jemand nicht mehr aufhören kann, dann leidet er an Alkoholimus, ist „unheilbar krank“.
Doch an der Psychose ist noch mehr dran. Wenn mir etwas oder jemand derart zusetzt, daß ich beginne, daran „kaputt zu gehen“, dann gibt es in mir eine Instanz, die sagt: „Vergiß es, schick ihn zum Teufel, ordne Deine Werte neu, setze dich selbst an die oberste Stelle, laß die ganze Sache los und sieh, wie du weiter kommst. ALLES ist besser als DAS, was dich derart leiden macht!“ Diese Instanz, ein Ego, das hautsächlich am Überleben und am eigenen Nutzen interessiert ist, scheint bei Psychotikern nicht zu funktionieren. Es verliert sich statt dessen in den Emotionen, im Haß, in der Angst, im Verlangen nach Rache. Nach außen mag so jemand extrem egozentrisch wirken, keine anderen mehr wahrnehmend, sondern nur noch die eigenen düsteren Gedankenlabyrinthe beschreitend. Vom gewöhnlichen Egoismus ist das jedoch meilenweit entfernt.
Es scheint keine Therapie für die Psychose zu geben, deren Bezeichnung sich dafür im Lauf der Jahre wandelt: mal diagnostiziert man Schizophrenie, mal Borderline Syndrom, mal psychotischen Schub. Immer gibt es Medikamente und Angebote, sich zu beschäftigen – auch körperlich und kreativ. Nach und nach kommt es zur „Stabilisierung“, die genau so lange anhält, bis wieder ein entsprechender Leidensberg aufgetürmt ist.
Auf dem Heimweg sehe ich den Himmel, ein spektakuläres Schauspiel heute abend, wundersam verwirbelte Wolken, blauer Himmel, ein Abendrot, daß die Wolken in allen Farben zwischen weiß, gelb, rot, orange, rosa, violett leuchten läßt. Und da hinten dunkelgrau-drohend das nächste Regengebiet.
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