Heute war ich am Bahnhof, den ich sonst nur aufsuche, wenn ich verreise. Es sind bei guter Verkehrslage 20 Minuten Autofahrt vom Chamissokiez bis zum Zoo – Ich fahre selten und genieße die kurze Spanne dieser Art Allein-sein, wie man sie nur im Auto erlebt. Dazu kommt, daß ich nur hier Radio höre. Auch jetzt schalte ich ein und suche einen Sender, aus dem nicht diese aufgekratzen Schnellsprecher tönen. Nicht immer einfach, heute jedenfalls finde ich nichts und gebe den Versuch auf.
Es ist ein aufgeladener bald-richtig-Frühling-Tag, wolkig, ab und zu ein heftiger Windstoß (den ich natürlich erst nach dem Aussteigen bemerke), dazwischen Sonnenstrahlen. Ich parke den Wagen auf dem Parkplatz und zahle Unsummen für zwei Stunden. Der Zeitungsladen ist mein Ziel, denn ich will Hochglanzmagazine ansehen, kein bestimmtes, sondern eine Menge. Vor allem solche, die sich an „Führungskräfte“ als Zielgruppe wenden. Was wohl da für Bilderwelten zu sehen sind? Ich suche Inspiration für eine Website, für die ich den Auftrag habe, aber noch keine Gestaltungsidee.
Ein Flop, die Magazine! In den Texten ist überall die Rede davon, daß der Unternehmer, der Selbständige, die Führungskraft und zu allervorderst der Manager sich in vieler Hinsicht ändern müsse – ja, er soll seinen Mitarbeitern sogar LUST an der Arbeit vermitteln. Aber die Bilder! Immer wieder diesselben Anzugtypen, die sich seit 40 Jahren kaum verändert haben. Ob man wirklich LUST empfinden kann in so einem Anzug?
Egal, ich suche ja Bilder – und finde sie nicht. Führungskräfte sind offenbar fern von konkreter Ästhetik, geradezu berührungsängstlich. Weder erlaubt sich so ein Magazin ein irgendwie bemerkenswertes Layout, noch scheint es viele Produkte für Führungskräfte zu geben, die ihre eigenen ästhetischen Welten mitbringen. Bürofassaden, Spiegel, Alu, Glas, schwarzer Marmor und technische Geräte fallen mir ein. Dazwischen ab und an eine grosse pflegeleichte Grünpflanze. Ach je, wie sollen die Leute sich da trauen, an irgendetwas Lust zu haben?
Unverrichteter Dinge geh ich aus dem Laden. Nichts hat mich angesprochen, auch nicht der kurze Blick auf ganz andere Themen: Tauchen, Tanzen, Surfen, Fit werden… Zwar ist mir jetzt klar, daß ich Managern, die sich ändern wollen, nicht mit demselben optischen Code kommen kann, den sie überall gezeigt bekommen. Andrerseits sind sie Fachkräfte fürs Allgemeine, die sich offensichtlich ihrem Job zuliebe weitgehend der Konkretisierungen enthalten. Wo es dauernd um große Summen, Verantwortung und Macht geht, verzichtet man wohl eher darauf, ein grünes Hemd oder Hight-Tech-Turnschuhe zu tragen, einer bestimmten Musikrichtung den Vorzug zu geben oder für türkische Teppiche zu schwärmen. Könnte ja sein, daß jemand genau das garnicht mag! Selbstverwirklichung wäre hier einfach zu teuer, denk ich mir und verstehe.
Für die gesuchte Gestaltungsidee hilft das Verständnis leider nicht weiter, vielleicht besser, ganz auf Bilder verzichten und mehr graphisch drangehen…
Im Musikladen
Weil die Atmosphäre so anregend ist, laufe ich noch ein Stück. Ein Musikladen ist da drüben und spontan gehe ich rein. Auch ein hochseltener Besuch, denn musikmäßig lebe ich in einer Wüste, merke normalerweise noch nicht einmal, daß mir etwas fehlt. Wenn ich mich zurückerinnere, wann ich damit aufhörte, Musik in meinem Leben zu haben (aufnehmen, hören, sich gegenseitig vorspielen….), fallen mit die 80er ein: Neue deutsche Welle, das war so ungefähr das letzte, was mich auf die alte Art begeistert hatte. Allerdings wurde ich in dieser Zeit in verschiedenen besetzten Häusern so ausgiebig von anderen beschallt, daß ich im eigenen Zimmer als erholsamen Kontrast höchstmögliche Ruhe einführte.
Seither zehre ich von den Beständen, wenn ich überhaupt mal die Gelegenheit zum Musikhören habe. Das letzte Musikequipment hab‘ ich nämlich vor ein paar Jahren bei einer Aufräumaktion entsorgt, unter dem Motto „alles ‚raus, was ich nicht nutze!“. Doch jetzt, da ich mit dem PC auch CDs abspielen kann, gibt es zumindest beiläufig auch diese Möglichkeit.
Aber was kaufen? Nur die alten Namen sagen mir etwas, doch das allermeiste davon will ich nicht unbedingt wieder hören. Und bei vielen Stücken, die mir im Prinzip noch immer gefallen, sträubt sich mir alles, sie auf irgendeiner der 10.000 Sampler-CDs zu kaufen. Es ist alles so zu-tode-vermarktet, daß sogar ich es mitbekommen habe, trotz Unaufmerksamkeit bezüglich des allgemeinen Musiklebens. Und irgendwann schämt man sich, man schämt sich, weil diese Musik einmal Bedeutung hatte, sie war mehr als Ware und ein guter Audio-Event.
Schliesslich erfülle ich mir einen Wunsch, den ich schon einige Jahre hege, soweit ich überhaupt an Musik denke: die alten Platten von Leonard Cohen!
Und jetzt sitze ich also hier seit heute mittag um 3 und höre diese Scheiben (immerhin sind es noch SCHEIBEN), die mich schon vor 25 bis 30 Jahren auf eine Weise berührt haben, wie keine andere Musik: Songs from a room, Songs of Love and Hate, New Skin for the Old Ceremony. Und es hat sich nichts geändert, in diesem Punkt nicht. Anscheinend trifft Cohen mit diesen alten Songs bei mir eine Grundstimmung, bzw. ein ganzes Essemble, eine Art Gefühlsweb. Gerade höre ich „You know how I am“ – und da fällt mir doch etwas auf, was sich geändert hat. Es heißt im Refrain:
„You know who I am, you’ve stared at the sun, well, I am the one who loves changing from nothing to one“.
Wie bin ich doch auf diesen Satz abgefahren! Wie alle Jungen fühlte ich mich vielfältig als Nichts und Niemand, unterlegen oder ausgeliefert und gab mir alle Mühe, das zu verändern, wenn nicht wenigstens zu verbergen. Da traf dieser Satz genau ins Schwarze.
Er stimmt aber nur für die erste Hälfte des Lebens: Vom Namenlosen zum Namen kommen, vom Nichts zum Etwas, vom niemand zum jemand werden, das ist nur die halbe Miete (wie die Berliner sagen). Im Rest der Zeit – den ich plötzlich, irgendwann Mitte dreißig als solchen erkannte, geht es darum, die EINS wieder loszuwerden, wieder in Richtung Null zu tendieren, den Namen wieder los zu werden. Nicht aus irgendwelchen honorigen Gründen, sondern weil es keine Freude macht, in einem Gefängnis, in einer festen Form alt zu werden. Eine solche Form, eine PERSÖNLICHKEIT, häuft soviele Automatismen an, daß kaum mehr Freiheit übrig bleibt. (Wer dazu noch das Pech hat, irgendwie bekannt zu sein, findet nur noch schwer die Tür raus aus dem gemütlichen Elend.) Jede Verwirklichung ist eben der Tod unendlich vieler Möglichkeiten.
So manche Zeile der Cohen-Songs verstehe ich heute anders, mit den Texten verbinden sich hier und da gewandelte Bedeutungen – doch die Wirkung der Musik, der Stimme, ist genau diesselbe, der Gefühlseindruck unverändert. Wie eigenartig!
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