Gestern sind wir also dort gewesen. Über die Autobahn sind es gut zwei Stunden bis Schwerin, dann verfahren wir uns noch regelmäßig, bis wir die „gelbe“ Straße nach Gottesgabe finden. Ein freundlicher Tankstellen-Betreiber half uns weiter, wir hörten zum ersten Mal den Sprachsound des Nordens – Ost oder West macht da offenbar keinen großen Unterschied!
Als wir die „Auffahrt“ zum Schloß gefunden und das Auto abgestellt hatten, dachte ich beim Anblick des weiß gestrichenen Hauses mit der Freitreppe und dem Rosenrondell davor: DA WOHNE ICH JETZT. Das ist mein neues Zuhause! Den Gedanken werde ich noch eine Zeit lang üben müssen, bevor er mir selbstverständlich vorkommt. Zu verschieden ist alles von meiner jetzigen Bleibe im Herzen Berlins, wo der Ausblick auf die Häuserschluchten immer nur ein kleines Stück Himmel übrig läßt und der Lärmpegel es oft nötig macht, zum Telefonieren die Fenster zu schließen.
In Gottesgabe ist es dagegen still, eine unglaubliche, wunderbare Ruhe, die am Sonntagmorgen nicht mal durch einen Rasenmäher gestört wird. Wir wanderten ergriffen ums Haus und begrüßten einige Mieter, die draußen frühstückten, stellten uns als „die Nachmieter vom Stober“ vor und ließen uns von den Hunden beschnüffeln, damit sie nicht mehr bellen, wenn sie uns sehen. Dann betraten wir UNSERE Wohnung. Leere Räume, frei von allem Gerümpel, Marmorfußboden im Erdgeschoß, Parkett im oberen Stock, wo ich wohnen werde. Leere Räume sind faszinierend, es sind Räume der Möglichkeiten und wenn ich es schaffe, werde ich versuchen, viel von dieser Leere zu erhalten. Das wird nicht schwer werden, denn in meinem Stockwerk sind es zwei Zimmer und eine große Diele – soviel Platz wie nie zuvor!
Nach einem Kaffee in der schon teilweise eingerichteten Wohnung unserer Freunde, die uns ihren Schlüssel mitgegeben hatten, wanderten wir durch den „Schloßpark“, die große Wiese hinter dem dreieckigen Haus, die verwilderten Gärten, die sich östlich des Hauses in eine Senke erstrecken, das kleine Wäldchen hinter der Wiese mit riesiegen, uralten Eichen und großen Akazien.
Es war nun nicht mehr still, denn Wind war aufgekommen. Und was für ein Wind! Er bließ dunkle Wolkengebirge vor sich her und wehte mir warm ins Gesicht, ich spürte ihn durch die Kleider, fast wie eine Massage. Je nachdem, wie die Sonne es noch schaffte, durch die Wolken zu scheinen oder nicht, änderte sich die Stimmung rundum von Sekunde zu Sekunde. Und meine Stimmung änderte sich mit! Von einer Art freudiger Glückseligkeit hin zur Melancholie, dann wieder eine erregte Spannung angesichts von etwas Unbekanntem, das sich da in den Wolkentürmen gleich zeigen würde, fast, als käme gleich Gott um die Ecke.
Ich bin ein Resonanzkörper für die Elemente und schwinge einfach mit, eine Qualität, die in der Stadt nur selten spürbar wird. Dort richtet sich das Empfinden auf die Schwingungen des Sozialen, auf die Ausstrahlung der Menschen und ihrer Geräte. Doch unter dem weiten Himmel, umgeben von rauschenden Bäumen und flüsternden Zweigen wird der Gefühlskörper einer Generalreinigung unterzogen. Kein Gedanke schafft es, sich da wirklich festzuhalten, keine Grübeleien und Überlegungen schotten mich von der Umgebung ab, die sich direkt in den Empfindungen spiegelt.
Ich weiß, daß ich mich daran gewöhnen werde, daß es nicht so beeindruckend bleiben wird. Daß es auch im Wald von Gottesgabe möglich sein wird, über das nächste Webprojekt nachzudenken – aber es wird vergleichsweise leicht sein, es zu lassen. Das geht auch in der Stadt, keine Frage. Aber in der Stadt muß ich mich dann erst einmal mit vielem konfrontieren, was nicht gerade die Laune hebt: mißmutige unfreundliche Menschen mit verschlossenen Mienen, die ihre Agressivität an den Dingen auslassen, Müll verstreuen und Hauswände beschmieren (ich rede nicht von SCHÖNER Grafitti!). Luft, die nach Benzin und Fäulnis riecht, so daß mein Geruchsempfinden weitgehend stillgelegt ist, das donnernde Lärmen des Verkehrs und der Baumaschinen, und – wenn es warm ist – laute Musik aus den offenen Fenstern, extra aufgedreht um andere zu übertönen.
Es gibt natürlich auch in der Stadt das Schöne, die Fröhlichkeit, das Feiern auf den Festen, die Straßen mit den vielen Cafés und dem südländischen Flair. die unglaubliche Vielfalt der Gesichter, Körper und Klamotten, und schließlich Kunst und Kultur. All das wird mir fehlen, ich weiß. Doch hier & jetzt, seit 20 Jahren schon darin lebend, nehme ich es sowieso kaum mehr wahr. Dazu muß ich erstmal weg, hin zur anderen Seite des Daseins, wo die Elemente dominieren und nicht die Kultur. Von dort aus werde ich Berlin und andere Städte besuchen und bestimmt viel Freude haben!
Meine Freundin Jolly, die uns gestern nach Gottesgabe begleitet hat, sagte mal: draußen bekommt man von allen Seiten etwas geschenkt. Das stimmt. In der Stadt ist es sehr viel mehr von meiner bereits vorhandenen Befindlichkeit und Stimmung abhängig, wie ich das ‚Außen‘ wahrnehme: deprimierend oder fröhlich, bunt oder grau in grau, friedlich oder agressiv. In der Welt der Elemente dagegen bin ich auf entspannende Weise zweitrangig. Hitze und Kälte, Wind, Regen, Sonne und die Gerüche der Erde spielen die erste Geige. Ich freu‘ mich drauf.
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