Michael Charlier schrieb mir folgenden Leserbrief:
Liebe Claudia, im Digidiary vom 31.7. hast Du geschrieben:
Mittlerweile ist es mehr als das: eine Lustlosigkeit, mich auch noch abends der Online-Welt zuzuwenden, Zeichen und Bilder zu generieren, anstatt physisch und psychisch etwas „Richtiges“ zu erleben. Es scheint, als erzeuge die Abwesenheit der städtischen Menschenmassen eine Sehnsucht nach Sozialem, wogegen der tägliche Anblick 1000er Unbekannter das Gefühl hinterläßt: Wie schön, daß ich wenigstens in meinen vier Wänden allein und ungestört bin! Ich bin gespannt, ob in der dunklen Jahreszeit die Lust auf „Medien“ wiederkommt.
Darüber habe ich mich etwas gewundert, und zwar deshalb, weil Du hier eine ganze Hälfte der Online-Welt unter die Tastatur fallen läßt. Die Hälfte, die über das Generieren von Zeichen und Bildern hinaus geht, auch psychisch „richtige Erlebnisse“ erlaubt/vermittelt und lediglich in Sachen Physis farb- und leblos bleibt – woraus sich freilich wiederum lebhafte Verfremdungseffekte ziehen lassen. Die Hälfte, deren Existenz und Gewicht ich nicht zuletzt durch Deine Arbeiten erst richtig kennengelernt habe.
Was ist denn das auf einmal für ein Gegensatz zwischen „Online-Welt“ und „Richtiger Welt“, „Sozialem“ und „Medien“? Deine Online-Freunde z.B. sind doch keine „generierten Zeichen und Bilder“ oder virtuelle Traumgestalten, sondern ganz normale lebendige Menschen, bloß anderswo. Wenn Du Sie einmal hast (und Du hast sie nicht, weil Du sie generiert hättest, sondern weil Du sie gefunden hast, oder sie Dich), gehören sie mit zum „Sozialen“, einem „Sozialen“, das allerdings komplexer ist als das Sozialgefüge eines Dorfplatzes, eines Kreuzberger Kiez oder der Wohnküche von Gottesgabe.
Dieser Komplexität wird man nicht Herr, indem man den Computer abstellt. Man reduziert die Zahl der genutzten Medien und damit der möglichen sozialen Kontakte: Wenn ich auf das Auto verzichte, kann ich die Leute in der Wohnküche im Nachbarort nicht mehr erreichen. Wenn mein Vater keinen Nerv hat, sein Hörgerät anzustellen, kommen wir auch am gleichen Tisch gegenübersitzend nicht weit. Wenn ich drei Wochen Urlaub mache und weder meine e-Mail abrufe noch mich vorher ordnungsgemäß bei meinen Mail-Partnern abmelde, erwartet mich am Ende des Urlaubs ein beträchtlicher Kladderadatsch in meinem sozialen Gefüge, und der ist höchst real und nix von virtuell.
Die Frage ist natürlich, wieso ein Netzmensch überhaupt den Wunsch verspüren sollte, die Kompexität seiner sozialen Beziehungen zu reduzieren – schließlich halten Netze umso besser, je mehr Knoten sie haben. Es hat vielleicht etwas mit der wohltätigen Erfahrung von Einfachheit zu tun, die der Wechsel aus der Millionenstadt in das 150-Seelen-Dorf mit sich bringen mag. Und solange Du Deinen partiellen Verzicht auf Online-Kommunikation noch online mitteilst, besteht ja noch Hoffnung.;-)
Liebe Grüße!
Offenbar bin ich ein wenig missverstanden worden und selber schuld! Michaels Hinweis, daß es keine von der „eigentlichen“ Welt verschiedene Online-Welt gibt, verdankt sich einem SPRACH-Problem, das ich bis jetzt nicht befriedigend lösen konnte. Da es öfter auftaucht, steht dieser Punkt auch im Editorial („Real – oder wie?“), doch wenn ich über das medialisierte Dasein schreibe, tritt das Mißverständnis immer wieder auf.
Selbstverständlich sind die Online-Freunde ganz normale Menschen, das Geschehen, das sich über das Netz vermittelt, ist ohne gedankliche Verbiegung zum „Sozialen“ zu rechnen. Wenn mich jemand ärgert oder erfreut, verursacht das entsprechende psychisches Reaktionen – ich bewege mich keineswegs im Glauben, mit „virtuellen Traumgestalten“ umzugehen. Es war für mich auch nie reizvoll, Rollenspiele der Anonymität zu spielen, da der „Schauplatz“ Netz keineswegs eine Theaterbühne ist, sondern ein Teil der „wirklichen“ Welt.
Was ich meine, wenn ich sage, daß mir „die Online-Welt“ phasenweise den Buckel runterrutschen kann, ist etwas anderes. Eine Sehnsucht nach dem Hier& Jetzt in seiner Gesamtheit. Statt dem wenig eingebürgerten „virtuellen Leben“, dem „medialen Dasein“, oder dem „Generieren von Zeichen und Bildern“ fühle ich mich auch versucht, „Real Life“ zu sagen – und weil DAS wieder das o.g. Mißverständnis bringt, will ich fast schon statt dessen „PHYSISCH“ sagen – und sag‘ es dann doch nicht, weil ja jeder weiß, daß das „richtige Leben“ sowohl physisch, als auch psychisch und geistig ist (ehem: Vater, Sohn, heiliger Geist, nachdem die große MUTTER abgedankt hatte).
Doch PHYSISCH als Bezeichnung für das, was der ‚Online-Welt‘ fehlt, ist nicht ganz falsch. Zwar ist jede psychische Reaktion auch physisch und jeder Gedanke spielt sich im materiellen Gehirn ab – doch bleibe ich damit vor dem PC allein. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ein Gespräch ‚von Angesicht‘ zu führen, ein ganz anderes Ereignis, wenn ein Unbekannter hier den Schloß-Bereich betritt, als wenn der digitale Briefkasten täglich Nachrichten von Freunden und Fremden enthält. Eigentlich ist DAS gerade das Interessante an der medial vermittelten Kommunikation: man kann dem besser nachspüren, was fehlt, und es so besser bemerken, als eigene Qualität schätzen, unabhängig von Interessen und Symphatien.
In Berlin hatte ich praktisch nur die Wahl zwischen verschiedenen Medien. Wenn ich vom PC genug hatte, las ich ein Buch, schaute in eine Zeitung oder schaltete den Fernseher an. Selbst der Spaziergang im Park oder der Stadtbummel konfrontiert laufend mit „Bedeutung“, mit den Zeichenwelten der Plakate, der Klamotten und Marken. Die Elemente, Tiere und Pflanzen kommen praktisch nicht vor – alles was ist, ist so, weil es Menschen so gemacht und damit etwas gemeint und gewollt haben. Unter Menschen ist das Mediale und Virtuelle immer schon da – und doch ist es noch ein Unterschied, jemanden physisch zu erblicken, als nur von ihm zu lesen. Es vermittelt sich wesentlich mehr, als das bewußt Gemeinte – ob man es nun bemerkt oder nicht.
John P. Barlow, der Visionär des Cyberspace, ist vom Rinderzüchter zum Netizen geworden. Derzeit scheint es mir möglich, den Weg auch umgekehrt zu gehen: hinter dem Schloß-Wäldchen liegt eine riesige, etwas feuchte Wiese, die offenbar niemandem nützt, nur der Vorschrift halber wird sie einmal im Jahr gemäht. Die alten und neuen Heuballen liegen herum und faulen vor sich hin. Sicher wäre die Wiese unproblematisch zu pachten – wär‘ es nicht toll, darauf einige schottische Hochlandrinder anzusiedeln?
Gestern kam uns die Idee und meine Recherchen im Netz ergaben, daß es sich hier um die unkompliziertesten Rinder aller Zeiten handelt. Sie können ganzjährig draußen bleiben, weiden die Wiese ab, bekommen ihre Kälber ohne Hilfe und halten Temperaturen bis -20° locker aus. Und sehen sie nicht erstaunlich aus? Richtige Urviecher – so ungefähr das krasseste Gegenteil einer virtuellen Märchengestalt!
Mal sehen, ob sich diese Idee verdichtet. Ich hab‘ schon mal an zwei Highlander-Züchter gemailt ….
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