Bodenlos leben wir, innerlich der Erde fern – und noch so intensives Graben in Matsch und Mist ändert daran nichts.
Gerade lese ich das Buch „Mylopa“ von Ulrike Linnenbrink, das (noch…) in Auszügen auf ihrer Homepage angelesen werden kann. Es beschreibt eine Erfahrung, die viele aus meiner Generation gemacht haben: der große Umzug aufs Land, den Versuch, eine nostalgische Idylle mit Tieren und Pflanzen aufzubauen, mit Hühnern, Katzen, Hunden, Schweinen, Schafen und sogar einem ESEL. Das Arbeiten bis zum Umfallen, um auch ja jedes stillose Bauelement modernisierungssüchtiger Altbauern durch das originale, traditionelle, echt-hölzerne Teil zu ersetzen; das Pflanzen der Bäume, die Freude am Wachsen und Werden im Garten, der selbstgepflückte Kräutertee am Morgen. Und natürlich die Tränen beim unvermeidlichen Schlachten eigener Tiere, die konsequenterweise fortan keine NAMEN mehr bekommen.
Hauptpersonen sind – wie könnte es anders sein – beamtete Lehrer, die all dies ohne die geringste echte Gefährdung ihrer „bürgerlichen Exisitenz“ mit Hilfe von Staat, Banken und Eltern ins Werk setzen können: Eine Suche nach Licht ohne Schatten, wobei die Schattenwelt der Spätmoderne, die Hochzivilisation mit ihren bösen Apparaten und Verfahren, mit ihrer Industrie und Gigantomanie doch die Basis ist und bleibt, auf der diese Suche nur stattfinden kann.
Natürlich handelt das Buch vom Scheitern – doch ich bin ja erst in der Mitte, die Idylle ist noch im Aufbau begriffen. Die Akteure sind ungebrochen in ihren Gut-Mensch-Meinungen, den einfachen Polaritäten: hier die böse Chemie, dort der gute Kompost…. Ehemals waren sie politisch aktiv, grün, alternativ – doch wenn das Glück im eigenen Garten so nah liegt, warum dann noch kämpfen?
Ein lesenswertes Buch für alle, die, im Sog der bewegten 70ger-Jahre, irgendwann einmal versucht haben, sich abzuwenden und alles anders zu machen. Und die allermeist zurückgekommen sind, zurück in die Stadt, aus der die Kälte kommt – aber auch der Scheck.
Vermutlich hat jede Generation einen großen Traum, an dem sie kollektiv und individuell scheitert. Für mich hat sich diese Erfahrung recht spät in ein paar Monaten Toskana Mitte der 80ger verdichtet, und ich bin dankbar, daß es nicht aufwendiger war. Ich hatte viele Bücher vom einfachen Leben auf dem Land verschlungen, hatte neidvoll die verschiedenen Landprojekte beäugt, ohne selbst je ernsthaft den Absprung in Betracht zu ziehen. Dann, in dem alten Bauernhaus in der Nähe von Siena war ich nahe daran: legte einen Garten an, machte Früchte ein, trocknete Kräuter, träumte von eigenen Tieren, spazierte durch die Mittagshitze in verwunschenen Landstrichen mit verfallenen Häusern umher und überlegte, ob ich dort bleiben sollte. Es war zwar unübersehbar, daß diejenigen, die dort ansässig wurden und ihre Idyllen aufbauten, alles andere als glücklich waren. Doch das störte meinen Traum nur wenig, schließlich hält man sich als junger Mensch für GANZ ANDERS.
Eines Tages fand ich auf einem ziemlich zugewachsenen alten Weideweg eine samentragende Senfpflanze. Senf war damals in den Läden nicht zu finden und ich hatte Lust auf die richtige Zutat zum „Wurstel“ (so heißen in Italien die fünf schlaffen Bockwürstchen im Glas). Ich untersuchte das Gewächs genauer – schließlich bin ich nicht pflanzenkundig und erinnerte mich nur blass an die Zeichnung im Buch – ich kostete einen der Samen: ja, es war tatsächlich Senf!
Aber wie weit war doch dieser Geschmack entfernt vom Senf, wie ich ihn kannte! Es schmeckte scharf und bitter, zudem trug die Planze nur wenige Samen, die man zuerst mühevoll aus flachen Kapseln herausreiben mußte. Ich erinnerte mich an die Zubereitung, wie sie „traditionell“ beschrieben wurde: Sammeln, irgendwie aus den Kapseln herausdreschen, langwierig trocken, mörsern, gären, mit Essig und anderen Gewürzen vermengen, ziehen lassen…… so ganz genau wußte ich es nicht mehr, doch der Aufwand stand mir überdeutlich vor Augen!
Ich saß lange vor der Senfpflanze, während mein Traum starb. Es war nicht zu leugnen: Ein Glas industriell gefertigter Senf bei ALDI für 69 Pfennig, im Trinkglas zum Weiterverwenden abgepackt, war die wahrhaft ÜBERLEGENE Alternative. Ich konnte nicht im Ernst daran denken, die wertvolle Zeit meines Lebens damit zuzubringen, außerhalb der Gesellschaft lächerlich veraltete Herstellungsverfahren zu zelebrieren, nur um Nahrungsmittel zuzubereiten, auf die ich 1000 mal lieber verzichten würde, als mir eine solche Tortur anzutun. Und das galt nicht nur für den Senf!
Seit diesem Tag war ich eine andere. Der hochmütige Haß auf den „Mainstream“ war verflogen, denn ich wußte jetzt: Der Mainstream bin ich selbst. Die dunkle Seite der Macht, die diesen Planeten zu verschlingen droht, ist meine eigene dunkle Seite: die Gier, die Bequemlichkeit, das Streben nach Macht, vor allem der Macht, alles mit einem Knopfdruck (oder Mausklick) ins Werk setzen zu wollen. Gerade noch „einen Finger krumm machen“ und damit in der Stunde soviel verdienen, daß es für ein ganzes Regal voller Senfgläser reicht.
Eine ernüchternde Erkenntnis, die ich der Senfplanze danke.
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