Jede Angst ist im Grunde eine abgeschwächte und verkleidete Form der Todesangst, die als „letzte Angst“ hinter allen anderen Ängsten steht. In der Angst, beim Mitmenschen nicht anzukommen, nicht genug anerkannt oder geliebt zu werden, fürchten wir die Einsamkeit, den sozialen Tod. Die Angst vor Veränderungen, vor dem Wandel der Lebensumstände und vor dem Verlust gewohnter Sicherheiten bedroht unsere Selbstsicherheit, denn das Selbst, das wir sichern wollen, besteht oft aus nichts als Identifikationen mit dem einen oder anderen Besitzstand: meine Freunde, meine Stadt, meine Wohnung, mein Auto, mein Konto, meine Arbeit – wenn etwas davon wegzufallen droht, ist es, als ob ein „Stück von mir“ stirbt.
Lebensangst
Lange schon lebe ich mein Leben, ohne viel von diesen Ängsten zu spüren. Selbst wenn das Konto mal stark im Minus ist, kann ich Gelassenheit bewahren, gerate nicht in diese gehetzte und bedrückte Stimmung, die mich vor Jahrzehnten bei solchen Gelegenheiten um die innere Ruhe brachte. Da meine Laune nicht vom materiellen Besitz abhängt und es mir nie wichtig war, meinen Lebensstandard ins Luxuriöse zu steigern, hab‘ ich keine großen Verluste zu befürchten – klar, es wäre verdammt nervig, von der Freiberuflerin zur Harz4erin zu werden, doch vor allem wegen der damit verbundenen Bürokratie und der Beschränkung spontanen Handelns, nicht so sehr wegen der Armut selbst, die es bedeutet.
Ich hänge allerdings an meiner Wohnung und am Ort, an dem ich lebe. Das ist mir bewusst und ich rechne damit, zu leiden, sollte ich diese Wohnung mal nicht mehr halten können. Glücklicherweise ist sie relativ preiswert, genau wie die Lebenshaltungskosten in meinem Stadtteil. Also ist „im Prinzip“ im Moment nichts zu fürchten – toi toi toi! :-)
Stress mit dem Mitmenschen?
Mit Menschen hab‘ ich ebenfalls keine tiefer gehenden „Probleme“ mehr. Früher litt ich darunter, wenn jemand nicht so war, wie ich ihn mir erträumte, und fühlte mich ständig verletzt, wenn er meine Erwartungen nicht erfüllte. Doch irgendwann hatte ich es endlich geschnallt: das Glück kommt NICHT vom Anderen, kommt nicht von „außen“, sondern aus einem inneren Ort „Nirgendwo“, über den ich jetzt keine weiteren Worte machen will. Man kennt ihn oder eben nicht, man kann ihn nicht redend und schreibend teilen oder vermitteln. Er ist meine eigentliche „Heimat“, und alle Nähe, alles beglückende Miteinander, alle Verbundenheit mit Freunden und Geliebten zehrt allein von meinem Zugang zu jenem ortlosen Ort, an dem ich NIEMANDEN brauche, sondern bei mir selbst zuhause bin: wenn ich die Stille in mir nicht finde, finde ich nirgendwo sonst Erfüllung, sondern reibe mich nur auf in ewig sehnsüchtiger Suche am falschen Ort, immer wieder neu enttäuscht vom Mitmenschen, der als Glückslieferant zwangsläufig versagen muss.
Im Alltag bin ich deshalb nicht etwa gleichgültig, kann mich immer noch aufregen, ärgern, enttäuscht sein – aber anders als früher sehe ich, dass das automatenhafte psychische Prozesse sind, zum Leben gehörig wie der Schmerz, den ich empfinde, wenn ich mich in den Finger schneide: man sagt „aua!“, aber den Seelenfrieden bringt es nicht wirklich in Gefahr.
Es geschieht, ja, aber in dem Moment, in dem ich es als ganzen Prozess ins Auge fasse, einschließlich all der Bedingungen, die genau diese Realität herstellen, erkenne ich meinen kreativ-schöpferischen Anteil an dem, was mir dann als „Elend“ begegnet: sobald ich Erwartungen hege, mir ein Bild vom Mitmenschen mache, dem er gefälligst zu entsprechen hat, werde ich darunter leiden, wenn er dann anders reagiert, als erwartet. So sicher, wie mich das Messer in den Finger schneidet, wenn ich es in die falsche Richtung lenke.
Ich benutze immer noch Messer und schneide mich gelegentlich – vermutlich ist es meine persönliche Faulheit und Schlaffheit, dass ich mich nicht aufraffe, allerlei vermeidbare Leiden aus meinem Leben zu verbannen. Auch in Bezug auf meine Mitmenschen versuche ich nicht krampfhaft, keine Erwartungen entstehen zu lassen – ich erinnere mich nur, wenn das Leiden dann eintritt, dass ich daran erheblichen Eigenanteil habe. DAS schafft ausreichend innere Distanz zum eigenen Ärger, vergleichbar der zum Schmerz beim Schnitt in den Finger. Für mich reicht das momentan, was den Seelenfrieden angeht. Angst ist keine Begleiterin mehr in meinem Umgang mit Anderen – was will ich mehr?
Todesangst
Wie steht es aber mit der Angst vor dem Tod? Oft negieren Menschen, mit denen ich über sie spreche, dass sie da ist, dass sie hinter allem anderen, was uns bewegt, auch immer DA bleibt, solange wir leben. Schließlich wüssten wir ja alle, dass wir sterben, dass wir nur ein Stäubchen im Kosmos sind, in dem sowieso ständig alles bedroht ist. Morgen kann ein Meteor auf die Erde stürzen und alles ist vorbei. Ein Dachziegel kann mich treffen, die letzte Krankheit ist vielleicht nur noch nicht diagnostiziert, die statistische Lebenserwartung nur geringfügig zu überschreiten – alles lange bekannt! Das habe ein geistiger Mensch mit dem Intellekt durchdrungen, sagt mir ein Freund, und damit sei die Angst transzendiert und nicht mehr virulent.
So? Ich glaube kein Wort davon. Dass wir täglich alle unseren Alltag leben und die vielfältigen Bedrohungen genau wie das unvermeidliche Ende aus dem Bewusstsein ausblenden, ist eine Art nützliches Scheuklappen-Leben, bei dem wir uns alle gegenseitig unterstützen. Zivilisation ist die Lizenz zum Halbschlaf. Und gerade gerät dieser Halbschlaf durch die weltweiten Terror-Anschläge auch hierzulande in Gefahr, was viele dazu bewegt, ihre Urlaube umzubuchen – man möchte abschalten und nicht aufpassen müssen, nicht ständig an Gefahren denken. Das sind mir nicht mehr gewohnt und verteidigen unsere kollektive Illusion der Sicherheit mit vielerlei Mitteln.
Am Rande der Panik
Auf dem Flug nach Venedig bin ich der Todesangst begegnet – und dann wieder auf dem Flug zurück nach Berlin. Es war die dritte Flugreise meines Lebens und jedes Mal hatte ich MEHR Angst als beim Flug zuvor. Eine Angst, wie ich sie sonst nie und nirgends im Leben spürte, eine vom Körper und vom innersten Gemüt ausgehende kreatürliche Angst angesichts der sofortigen Vernichtung, die ein Absturz bedeuten würde. Der Blick aus dem Fenster auf Wolken unter mir oder auf die Erde aus unglaublicher Höhe versetzt mich fast in Panik – FAST, denn ich kann sie durch Konzentration auf den Atem und weitgehendes Ausschalten aller Sinneseindrücke halbwegs kontrollieren. Kontrollieren in dem Sinne, dass ich brav auf dem Sitz bleibe und nicht auffällig werde – aber NICHT etwa wegbekommen! Noch jetzt spüre ich die Reste der starken Kopf- und Nackenverspannung, die ich mir während dieser eineinhalb Stunden eingehandelte, obwohl seither mehr als 36 Stunden verstrichen sind. Diesen Text zu schreiben, lässt es mich erinnernd wieder fühlen – es ist das grauenhafteste Gefühl, das ich kenne. Kein Schmerz, kein persönlicher Verlust, kein Liebeskummer, keine Krankheit kommt auch nur ansatzweise an dieses furchtbare Angstgefühl heran, das mich im Innersten ergreift, wenn ich die Flugbewegungen spüre: das Beschleunigen oder Bremsen, das Ruckeln der Tragflächen in Turbulenzen – oder auch nur der Blick aus dem Fenster, wenn ich nicht zwanghaft in die andere Richtung schaue.
Es ist, als bliebe die Summe der Angst immer gleich. Da ich sie im Lauf eines halben Jahrhunderts aus weiten Teilen meines Lebens ausgeschieden habe, sammelt sie sich eben in der letzten Ecke und zeigt sich da in ganzer Stärke: Siehe, du bist sterblich, da kannst du machen, was du willst! Da rettet dich kein inneres Wachstum, keine Gelassenheit im Umgang mit Menschen und Dingen, keine innere Distanz durch Beobachten – rein gar nichts!
Dem Tod ist man (ja, MAN, nicht nur ich!) unrettbar ausgeliefert, weder Kampf noch Flucht ist mehr möglich. Dass ich DAS kein Stück „transzendiert“ habe, haben mir diese Stunden „über den Wolken“ gezeigt.
Es ist in Ordnung, diese Tatsache per Flugangst erlebt zu haben. Im Grunde wusste ich es immer schon, nur hab‘ ich es nicht GESPÜRT (meine früheren Flüge sind zwanzig und dreißig Jahre her, ich hatte es vergessen, bzw. verdrängt). Unter anderem ist dieses drastische Erlebnis ein Lehrstück über die Machtlosigkeit des Intellekts, der mit seinem Wissen über die statistische Gefährlichkeit bzw. Sicherheit des Fliegens angesichts real gefühlter Todesangst nichts auszurichten vermag – weniger als nichts!
Oder doch?
Ausweichen durch Betäubung und Vermeidung der Wachheit, das ist es, was vermutlich geht. Sollte ich noch einmal in diesem Leben in ein Flugzeug steigen wollen (wozu ich im Moment nicht die geringste Lust verspüre!), werde ich mich mit den Errungenschaften der Pharmaindustrie wappnen: in leicht euphorisierter Gleichgültigkeit dahin schweben, Valium, Prozac, oder was immer das Mittel der Wahl sein mag, in den Adern kreisend – vielleicht ist Fliegen ohne Todesangst SO ja möglich (Tipps dazu sind ausdrücklich erwünscht!).
Ob ich es damit dann riskiere, weiß ich aber noch nicht. Man muss ja nicht unbedingt fliegen, am Boden ist es ausgesprochen schön.
Diesem Blog per E-Mail folgen…