Ein paar Gedanken über Tod, Zeit und die Kunst, zu sterben
Seit meinem Artikel über die „Angst vorm Fliegen“ sind drei Maschinen abgestürzt, bzw. über die Landebahn hinaus geschossen und in Flammen aufgegangen. Letzteres lief erstaunlich glimpflich ab, alle Passagiere konnten rechtzeitig evakuiert werden. Dafür zeigt die neuerliche Katastrophe eines Billigfliegers, dass es noch weit Schlimmeres gibt, als „einfach abstürzen“ – nämlich eineinhalb Stunden mit dem Autopiloten weiter fliegen bis der Sprit alle ist und DANN abstürzen. Die Leute konnten noch SMS versenden – es graust mich, wenn ich es mir vorstelle!
Als ich vor ca. zwanzig Jahren das zweite Mal im Leben in ein Flugzeug stieg, um nach einer anstrengenden Arbeitsphase vier Wochen Tunesien zu genießen, war ich mit mir halbwegs im Reinen: ich WOLLTE diesen Urlaub, hatte genug Geld, um ihn selbst zu organisieren, nach mehreren Jahren ohne jegliches Interesse an „Urlaub“ stand mir der Sinn nach einem Abenteuer. Der Flugangst sah ich tapfer ins kalte Auge, lernte, dass der von der Stewardess angebotene Wodka durchaus helfen kann, und war dennoch überglücklich, in Tunis dann endlich wieder Boden unter den Füßen zu haben.
Doch auf diesem heimatfernen Boden empfingen uns wenig freundliche, martialisch auftretende Polizeikräfte: mein Begleiter hatte vergessen, seinen Pass zu verlängern, wir waren keine Pauschalurlauber mit fest gebuchtem Hotel, also steckte man uns „postwendend“ wieder in dieselbe Maschine und schickte uns zurück, anstatt uns in der Botschaft den Pass verlängern zu lassen.
Jetzt war ich NICHT mehr mit mir im Reinen: für vier Wochen Abenteuer war mir das Risiko als Preis nicht zu hoch gewesen – jetzt aber flog ich gegen meinen Willen. Würde ich JETZT abstürzen, wäre ich nicht „selber schuld“, sondern wäre Opfer der Willkür einer polizeistaatlich agierenden Obrigkeit, der wir suspekt erschienen waren. Seltsamerweise erregte mich das noch weit mehr, als es die Flugangst alleine vermochte. Auf dem Hinflug war ich damit einverstanden gewesen, für vier Wochen Tunesien mein Leben zu riskieren, mich einer dünnen Röhre anzuvertrauen, die mich in zehn Kilometern Höhe durch lebensfeindliche Luftschichten tragen sollte. Ganz bewusst hatte ich meine Lust auf Urlaub ÜBER meine Angst und die Möglichkeit eines Absturzes gestellt – und war mir dabei schon einigermaßen absurd vorgekommen! Wer seine Angst ernst nimmt, sollte vernünftigerweise nur dann fliegen, wenn es unumgänglich ist: wenn zum Beispiel ein Freund oder Verwandter in der Ferne im Sterben liegt, oder ein wichtiges Geschäft, von dem die Arbeit vieler Menschen abhängt, persönliche Anwesenheit erfordert. Und doch war ich aus bloßer Vergnügungssucht eingestiegen – aber immerhin selbst bestimmt!
Die Stewardessen waren sehr verständnisvoll und reichten erneut Wodka, der allerdings meine Flugangst weit weniger gut dämpfen konnte als auf dem Hinflug.
Wenn schon sterben, dann aber selbstbestimmt! Was für ein seltsames Verlangen, wenn man es genau besieht. Es ist allen vertraut, die sich ein „Mittel zum Abtreten“ wünschen, wenn sie an Alter, Krankheit und Tod denken. Wir wollen dem Geschehen nicht hilflos ausgeliefert sein, sondern über einen „Ausschaltknopf“ verfügen – um uns damit dem Tod vorzeitig in die Arme zu werfen, anstatt seinen „Anblick“ zu ertragen.
Dass da kein Tod ist, solange wir leben, und im Tod kein Subjekt mehr existiert, das sich über etwas erregen könnte, ist ein so abstrakter, bloß logischer Gedanke, dass er dem lebendigen Fühlen der Angst nicht wirklich etwas entgegen setzen kann. Ähnlich wirkungslos bleibt für das gewöhnliche Bewusstsein die Weisheit, dass es keine Zeit gibt, sondern allein den Augenblick, das „ewige Jetzt“: Vergangenheit existiert nicht, es gibt nur die Erinnerungen, die JETZT in uns leben. Zukunft ist ebenso wenig real, wir denken sie uns nur, machen uns Sorgen, hegen Wünsche und verfolgen Pläne – alles hier und jetzt, wann denn sonst?
Das sind immer wieder gern vorgetragene „Trostgedanken“ aus spirituellen oder naturwissenschaftlichen Kontexten, doch erscheinen sie mir oft als reine Abwehr gegen das Schreckliche, von dem man nicht hören und nicht lesen will. Lebt denn der, der so spricht, selber leibhaftig „im ewigen Augenblick“, frei von jenem Missbrauch der Fantasie durch den Verstand, der uns gewöhnlich Beschränkten so selbstverständlich ist wie die Luft zum Atmen?
Ja, wir gruseln uns gerne mal, das Kino- und Fernsehprogramm ist eine einzige Seelenmassage, die Erregungszustände vermittelt, denen wir uns in gesicherter Distanz wohlig hingeben – aber am Ende soll die Familie wieder zusammen finden, das Paar muss glücklich werden, der Held triumphieren, oder sein Tod soll bittschön einen Sinn haben, der über das Übel hinaus weist. Alles andere schwächt uns nur im täglichen Kampf ums Fortkommen, wo immer es hingehen mag. Also bitte, lieber Mitmensch: Sorge dich nicht, lebe! (Aber vergiss nicht den regelmäßigen Gesundheits-Check!).
Nach innen fliehen?
Das Erleben der Flugangst hat mir eine Einsicht vermittelt, die nicht durch bloßes Lesen und intellektuelles Verstehen vermittelbar ist, sonst hätte ich sie schon seit Jahrzehnten „intus“. Ich hatte mich immer schon gefragt, warum in den verschiedenen Meditationswegen auf bestimmten Stufen versucht wird, alles Sinnliche vollständig auszuschalten. Ein Bewusstsein ohne Inhalt, ein Schweben im Nichts – was sollte das bringen? In vielen Jahren Yoga und durch das Durchleben einer tiefen Lebenskrise war mir das Vermögen zugefallen, die Welt des Denkens und Sorgens durch Konzentration auf den Atem und die körperlichen Empfindungen auszuschalten – nicht nur „beim Üben“, sondern jederzeit. Dadurch erlangte ich ein – verglichen mit dem früheren Zustand – unglaublich friedvolles Lebensgefühl, von dem aus es eine regelrechte Anstrengung bedeutet, die Welt der Alltagssorgen, des Ehrgeizes und der sozialen Ängste noch „richtig ernst“ zu nehmen.
Auch eine gewisse Arroganz gegenüber den „gewöhnlich Besorgten“ ging damit gelegentlich einher, die ich gar nicht mochte und sorgsam verbarg. Schließlich hatte ich selber lange genug ein „verspanntes Leben“ geführt, es war mir peinlich und entsprach nicht meinem Wertesystem, nun auf Andere herab zu sehen, anstatt liebendes Mitgefühl zu empfinden. Am tibetischen Buddhismus bewunderte ich umso mehr die Methoden, dieses Mitgefühl in der Psyche zu erzeugen und zu stabilisieren, doch war es niemals mein Weg, mich einer Lehre anzuschließen und – über einen sehr diesseitigen Yoga hinaus – „ernsthaft zu praktizieren“. Soviel spirituelles „Streben“ packe ich einfach nicht, dafür bin ich zu faul, zu undiszipliniert, zu genusssüchtig. Es verhält sich damit ähnlich wie mit dem Thema „Ordnung“: nicht, weil mir eine Tradition oder Autorität „Ordnung“ als hohen Wert nahe legt, räume ich mittlerweile meine Wohnung auf, sondern weil ich festgestellt habe, dass ich zu faul bin zum Suchen – und weil mich Chaos von dem ablenkt, womit ich mich gerade beschäftigen will.
Aber zurück zur Sache: Im Flugzeug versuchte ich automatisch, der Angst mit der gewohnten Konzentration auf den Körper zu begegnen – aber das half nur sehr beschränkt. Ich vermied den Blick aus dem Fenster, hielt mir zeitweise Augen und Ohren zu und schaffte es so, die Fluggeräusche weitgehend auszublenden. Ich beobachtete den Atem, der sich ein wenig beruhigte, doch die Angst, die aus dem „Spüren“ kam, konnte ich nicht besiegen. Mein Bauch fühlte das Zittern der Tragflächen, das Ruckeln in den Turbulenzen, da war nichts zu machen. Und so verfiel ich immer wieder den Angstgedanken, sah mich abstürzen, in Panik geraten, aufschlagen und sterben.
Es liegt auf der Hand, dass ein weiterer Schritt „weg von alledem“, eine Praxis der leibfreien Meditation, die auch auf das Spüren des Körpers und Beobachten des Atems verzichten kann, hier äußerst nützlich wäre: Nach innen fliehen, wo die Flucht nach außen unmöglich ist – und nicht nur in einem Flugzeug, sondern auch in der Situation, die mit Sicherheit auf jeden von uns zukommt: Wenn das Ende in Sicht ist und das Leben nichts mehr bietet, das zum Bleiben verleiten könnte.
Dass ich deshalb jetzt zu einer „ordentlich Meditiererin“ werde, bezweifle ich. Dafür fliege ich einfach zu selten. Die Arroganz des „entspannten Bauches“ ist mir aber gründlich vergangen – und das ist ja auch schon was!
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