In den letzten Tagen bin ich schreiberisch fremd gegangen: In der Liste Netzliteratur läuft eine derart interessante Diskussion, daß ich zum Diary gar nicht mehr gekommen bin. Ich hatte einen Kommentar zu Martin Walsers ZEIT-Artikel Selbstgespräche gepostet, der mich sehr beeindruckt hat. Obwohl ich keineswegs Walser-Fan bin, sogenannte „Großschriftsteller“ sind mir schon seit den Zeiten des Deutschunterrichts nicht besonders nah. Walser beschreibt den Unterschied zwischen der „adressierten Sprache“ der Öffentlichkeit und der persönlichen Sprache eines Schreibenden – auf eine so selbst beobachtende Weise, daß es fast klingt, als schriebe er ein Diary. Naja, heißt ja auch „Selbstgespräche“….
Das Thema hat gezündet – schließlich ist fast jeder gelangweilt vom öffentlichen Jargon der Politiker und Funktionsträger. Und auch die Art und Weise, wie dann die „Meinungsmacher“ in den Medien einen Skandal machen, wirkt lange schon irgendwie komisch: Eine Art Schauspiel, bei dem die Rollen ab und an neu zugeteilt werden und die Emotionen & Entrüstungen so zelebriert erscheinen, wie der künstliche Nebel in einer Diskothek.
Die Frage nach der Möglichkeit authentischer Rede berührt mich – auch dieses Diary ist ja ein Versuch, auf eine Art und Weise zu sprechen, die weder in floskelhafte Urteile über dies und jenes, noch in bloßes Geschwätz über alltägliche Dinge des persönlichen Lebens abgleitet, die niemanden interessieren.
Eine Umfrage zur Netznutzung ergab vor ein paar Wochen, daß knapp die Hälfte aller User noch niemals ein redaktionell betreutes Medium aufgesucht hatten. Offenbar verbringen sie viel Zeit damit, in ganz anderen Ecken des Webs zu lesen und zu schreiben. Die Möglichkeit traditioneller „Meinungsmacher“, über Massenmedien zu sagen, wo es lang geht, was man denken darf und was nicht, schwindet dahin – es gibt einfach zu viele Medien, als daß das „Herrschen“ noch so einfach wäre. Einerseits ist das gut so, das selber-denken wird immer nötiger, die Freiräume der einzelnen Individuen wachsen – wofür sie allerdings genutzt werden, ist die Frage.
Wenn keine starke öffentliche Meinung mehr „zivilisierend“ auf die Menschen einwirkt, kommt von rechts der Ruf nach dem starken Staat, nach mehr Recht & Ordnung, mehr Gesetzen und Gefängnissen. Andere denken über die gentechnische Veränderung des Menschenparks nach.
Doch stehen wir wirklich ganz im (wert-)Freien, wenn die Meinungsmacher an Macht verlieren? Ich denke nicht, es gibt nur nicht mehr die „eine Öffentlichkeit“.
Sondern viele kleine Öffentlichkeiten, in denen ich hier und da – fluktuierend entlang an Interessen und Freundschaften – gleichzeitig Mitglied bin. Durch eigene Projekte generiere ich „eigene“ Kleinöffentlichkeiten und auf all diesen Ebenen werde ich für andere sichtbar. Nicht als allzeit korrekte Meinungsinstanz, sondern in all meiner Widersprüchlichkeit, da sich eine „adressierte Rede“ (siehe den Walser-Artikel) im lebendigen Netz nicht aufrecht erhalten läßt, selbst wenn man punktuell versucht, derart zu reden.
Mal angenommen, ich fasse dann an irgendeinem Punkt eine Meinung: „Man sollte jetzt dies oder jenes tun“ was zugegeben selten vorkommt und vertrete das in „meinen“ Kleinöffentlichkeiten. Dann hab‘ ich erfahrungsgemäß gute Chancen im Kampf um die sogenannte Diskurshoheit und kann u.U. andere auch zum Handeln inspirieren. Jedenfalls hab‘ ich bessere Karten als jemand, der z.B. aus Angst vor Datenjägern überall anonym bleiben will – und gute Karten auch verglichen mit allen, die lediglich allgemein-politisch agieren und keinerlei „Verschwimmen“ zwischen öffentlicher und persönlicher Rede zulassen, bzw. versuchen. In der Werbeforschung weiß man seit langem: Das Wirksamste ist die Mundpropaganda! Alle anderen Werbemittel können im Vergleich dazu einpacken.
Und es gibt unzählige wie mich in unzähligen Kleinöffentlichkeiten, bzw. all dies wird mit zunehmender Medienkompetenz wachsen. Wenn dann etwas geschieht – mag sein, dass noch immer die ZEIT und die FAZ darüber schreiben, als hätten sie das Sagen – wird es das Ergebnis des kommunikativen Handelns dieser Kleinöffentlichkeiten sein. Man kann nicht wissen, was im einzelnen herauskommt, welche Teilnehmer sich wo eine kleine Diskurshoheit erringen, wie diese sich weitertransportiert und wie viele konkurrierende Meinungen nebeneinander laufen, bis auf einmal EINE zur Mehrheitsangelegenheit wird und sich durchsetzt.
Was warum zum „Attraktor“ wird, läßt sich nicht voraussehen und nicht inszenieren, so sieht es auch die Chaos-Forschung, zum Ärger aller Macht-Akkumulatoren dieser Welt.
Dass das keineswegs weltfern ist, sieht man übrigens an der Börse: das ganze Hirnschmalz aller arrivierten Meinungsmacher ist oft binnen zwei bis drei Tagen obsolet durch die Aktionen der Vielen. Solange die Aktienanlage noch ein Bereich für Spezialisten und Professionelle war, haben die Voraussagen halbwegs hingehauen – doch seit die „Massen“ eingestiegen sind, sozusagen von der Wohnzimmercouch aus, sind alle völlig perplex über das, was abgeht….
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