Berlin, Bahnhof Zoo. Die Schmuddelsszene ist längst an den entlegenen Hintereingang verdrängt, ich stehe in einer hellen Shopping-Mall. Bunte Läden und schicke Imbißstände laden den Reisenden zum schnellen Konsum, geschäftig eilen die Menschen durch die Halle oder stehen herum. Ja stehen, denn Sitzgelegenheiten gibt es nicht, könnten sich doch Unerwünschte dort niederlassen und die Optik stören. Damit die Stehenden wissen, wo sie hinsehen können, gibt es die übliche Video-Wand mit Wetterbericht und Infos der Bahn.
Ich verbringe die letzte Stunde meines 1-tägigen Berlin-Besuchs in diesen Hallen, kaufe Zeitungen, eine Fahrkarte, eine Wurst mit Brötchen und Senf, einen Bananensaft – doch damit ist mein Konsumpotential für jetzt ausgeschöpft. Noch 20 Minuten bis zur Abfahrt, was tun?
Nichts. Mangels Sitz-Möglichkeit ist es mir verwehrt, mich in die gekauften Medien zu versenken, also schaue ich einfach zu, was so vorgeht. Auf dem Land sehe ich nie so viele Menschen und auch nicht so verschiedene, also sehe ich hin. Betrachte die unterschiedlichen Gesichtsausdrücke, die Klamotten, die Gangart, die Haltung, die Bewegungen der Leute. Das unverstellte Hinsehen aktiviert nach wenigen Sekunden eine innere Stimme: Man starrt doch die Menschen nicht einfach so an!
Ich registriere den Ordnungsruf und sehe einfach weiter hin. Vertiefe mich in die erstaunlich finsteren Augenbrauen eines braunhäutigen Dicken, der mühsam seine überquellende Reisetasche schleppt. Betrachte die Pickel im Gesicht eines blonden Mittdreißigers, der nervös mit dem Fuß wippt. Sehe den Geschäftsmenschen, geschniegelt vom Scheitel bis zur Sohle, der mit glasigem Blick in sein Handy spricht, folge mit den Augen zwei attraktiven Südländerinnen, die heftig aufeinander einreden. Hier und da stehen Uniformierte, Hände auf dem Rücken verschlungen, sie drehen sich langsam um sich selbst, damit ihnen nichts entgeht, was die Ordnung störten könnte.
Niemand sieht mich. Keiner bemerkt mein Starren. Die innere Benimmregel ist gänzlich überflüssig! Ich müsste schon laut schreien oder angfangen, zu tanzen, damit jemand auf mich aufmerksam wird. Alle sind vollständig in ihr „eigenes Ding“ verstrickt, selbst die, die sich offensichtlich langweilen. Es ist, als wäre ich unsichtbar – ich BIN unsichtbar!
Normalerweise deprimiert mich sowas. Das Aneinander-vorbei-sehen stört mich, die Versunkenheit der Vielen in die je eigenen Ziele und Geschäfte erscheint mir als Wachschlaf, als automatenhaftes Wuseln einer Menschenmenge ähnlich einem Ameisenhaufen. Ich leide, wenn ich das erlebe, einen kurzen Moment lang, bevor ich selber wieder in den eigenen Schlaf verfalle.
Doch heute nichts davon. Ich bin UNSICHTBAR – und das ist wunderbar! Ein Gefühl absoluter Freiheit überkommt mich: Niemand sieht mich, niemand will etwas von mir, niemand bewertet mich. Wie sonst auch, interpretiere ich die Szene als Symbol für’s Ganze, doch diesmal bedeutet sie etwas anderes: Es ist gut, wie es ist. Ich bin allein und kann mein eigenes Ding machen, keiner schert sich darum. Weder muß ich irgendwie loyal sein, noch braucht mich die Welt. Das, was ich bei mir und anderen als Wachschlaf interpretiere, sind in aller Regel Geschäftigkeiten, die dafür da sind, bemerkt zu werden. Aktivitäten, mittels derer jeder versucht, ein bißchen höher aufs Podest zu kommen, um endlich von Scheinwerfern angestrahlt und wahrgenommen zu werden. Und damit sind wir alle so beschäftigt, daß wir herumlaufen wie die Zombis und einander schon garnicht mehr ansehen.
Die halbe Stunde im Bahnhof zeigt mir: Es gibt ein Leben neben dem Kampf ums Dasein. Nämlich das Dasein selbst. Niemand hindert mich daran, den Daseinskampf auf das Nötigste zu beschränken und im Raum der Freiheit zu sein. Ein Raum ohne „Um-zu“, ein Leben, in dem von Moment zu Moment bewußt bleibt, was für ein unglaublich seltsamer Zustand das „In-der-Welt-Sein“ ist. Leben als Experiment, als Abenteuer mit dem gänzlich Unbekannten.
Hört sich gut an, denken ist leicht. Doch gleichzeitig wird mir klar, wie weit ich davon entfernt bin, diese Möglichkeit immer neu zu ergreifen. Ich weiß ja garnicht, was „mein Ding“ ist. Weiß nicht einmal, wie ich es anstellen soll, es herauszufinden. Und weil da keine klare Gebrauchsanleitung vor mir liegt, versacke ich täglich neu ins Gewohnte, in die Vielfalt des Kampfs ums Dasein. Wundere mich zwar, daß Siege so hohl sind und die Wunschmaschine langsam leerläuft, doch packe ich es nicht, das zu ändern.
Täglich eine halbe Stunde NICHTS tun, so als erster Schritt, um wenigstens zur Besinnung zu kommen, genau wie auf dem Bahnhof – vielleicht gelingt mir wenigstens das?
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