Als ich vor einigen Jahren den Text „Wer bin ich“ ins Web stellte, glaubte ich schon lange nicht mehr ernsthaft daran, da etwas „Substanzielles“ zu finden. Die Kindergeschichte von der Seele, die im Körper wohnt und nach dem Tod in Himmel oder Hölle „weiterlebt“, hat mich allenfalls bis zur Einschulung in Angst und Schrecken versetzt (offenbar hielt ich es intuitiv für unmöglich, in den Himmel zu kommen!). Immerhin war sie ein Gedankenbild, das ein Stück von dem lieferte, zu dem ich „Ich“ sagen lernte.
Je älter ich werde, desto besser erkenne ich, wie wenig „ich“ existiert. Mir scheint, die Welt ist ein Gewebe aus ganz verschiedenen Kräften und Einflüssen, mehr oder weniger materieller Art. Dabei ist z.B. ein politischer Skandal ebenso ein Einfluß wie ein Gewitter, ein Unternehmen ebenso eine kraftvolle Wesenheit wie ein Feuchtbiotop, und die Verdauung siegt manchmal über philosophische Gedankengebäude von großer Ästhetik. „Ich“ bedeutet mitten in alledem nur eine gewisse Trägkeit, ein Sammelsurium von Gewohnheiten, mehr nicht. Gießt man Wassser auf einen gleichmäßig runden Erdhaufen, so fließt das Wasser irgendwo herunter, ganz zufällig. Doch gießt man öfter, fließt es immer wieder an derselben Stelle, gräbt sich sein Bett und heißt auf einmal „Fluß“.
Es ist unverzichtbar, Gewohnheiten zu entwickeln, erfolgreiche Erfahrungen „abzuspeichern“ und bei Gelegenheit zu widerholen – schließlich kann ich nicht jeden Tag aufstehen und die Welt neu erlernen: Ohhhhhhhhh, wie wunderbar: der BAUM!!!! Oh, wie faszinierend, wie erschreckend und wunderbar: ein MENSCH! Nein, ich muß mich schließlich ohne großes Vorspiel an den PC setzen können und meinem Tagwerk nachgehen – wie sollte ich anders meine Miete zahlen?
Leben ist das aber nicht, dieses „funktionieren“. Wer darin ganz verschwindet, ist so gut wie tot. Mit zunehmendem Alter werden mehr und mehr Erfahrungen abgespeichert, stärker und fester werden die Gewohnheiten, man weiß, „wo es lang geht“, man geht keine Risiken mehr ein, ja, man kommt garnicht mehr in ihre Nähe, denn schon vorher wählt man den sicheren, den bewährten Weg. Und weiß natürlich alles besser.
Junge Menschen haben zwar noch mehr Bezug zu echter Lebendigkeit, doch es nützt ihnen fast nichts. Der Drang nach Anerkennung – zuerst beim anderen Geschlecht, dann auf der beruflich-gesellschaftlichen Ebene – ist derart stark, daß sie fast alles tun, um JEMAND zu sein, um anerkannt zu werden, im Guten und wenn das nicht gleich klappt, auch im Bösen: als Held oder Anti-Held, egal.
Kann ich irgend etwas tun, um diese Verläufe zu unterbrechen? Haben wir irgend eine Chance, etwas zu ändern, den üblichen Lauf der Dinge zu konterkarieren? Das frag‘ ich mich mein ganzes Leben schon immer wieder neu. Mit 20 glaubte ich fest daran, ich hätte einen freien Willen, könnte mich immer frei entscheiden und vor der Entscheidung sinnvoll überlegen, was das beste ist. Das hat sich als Irrtum herausgestellt, denn: Was sind die Ziele? Die Ziele, für die ich meine Gedanken, mein ganzes Hirnschmalz und meinen Willen jeweils einsetzte, sind ja gerade geboren aus diesem üblichen Spiel der Kräfte, SIND diese Kräfte!
Aus heutiger Sicht sage ich: es ist möglich, einfach still zu halten und alles zu beobachten. Das heißt nicht, nichts zu tun, sondern genau das Übliche weiter zu tun, dabei aber darauf zu achten, wie das so abläuft. Welche Ursachen zu welchen Folgen führen, welche Anstöße mich zu welchen Handlungen verleiten, welche Kräfte mich in Bewegung setzen und welche mich matt und eniergielos machen. Dann sehe ich, was ich oben schon andeutete: es sind jeweils Einflüsse, die mit der „Sache“, um die es vordergründig geht, selten etwas zu tun haben. Und es sind sehr viele unterschiedliche Einflüsse auf ganz verschiedenen Ebenen: Psyche, Körper, Gedanken, „äußere“ Einflüsse, Natur, Kultur, Mitmenschen…..
Je mehr und je öfter ich das beobachte, desto gelassener werde ich. (Kein Spruch!) Früher hätte es mich z.B. in Angst versetzt, wenn ich mehrere Tage hintereinander nicht die richtige Arbeitsenergie aufbringe für die anliegende Brotarbeit. Sondern statt dessen dies und jenes mache oder überhaupt nichts „nützliches“. Heute kann ich das locker so stattfinden lassen, denn da ist das Vertrauen (die Erfahrung!), daß sich das Arrangement der Einflüsse mit Sicherheit wieder dahin ändert, daß ich in die Laune zum „Bäume ausreissen“ gerate. Und wenn ich damit mal anfange, bin ich so produktiv, daß die Hängertage ausgeglichen werden. Nicht nur das: die Arbeit gewinnt sogar durch die faulen Phasen, denn in dieser Zeit entsteht ohne Bemühen – ich weiß auch nicht, wie – die Empfindung, was gut ist und was nicht.
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