Juh schrieb in der Mailingliste Netzliteratur:
„Ich finde, entwürdigend bei Big Brother und auch einigen anderen Spektakeln ist weniger, daß ganz individuelle Menschen entwürdigt werden, sondern daß dies für uns alle entwürdigend ist, weil es zeigt, wozu Menschen fähig sind, wenn sie nur Geld dafür kriegen. Daß Menschen zu allem bereit sind, wenn der Anreiz stimmt, ist zwar ein Allgemeinplatz. Aber die Verführbarkeit des Menschen andauernd vorzuführen, das verstößt m.E. gegen die Menschenwürde.“
Das war auch mein erstes Gefühl, als ich von der Sendung zum ersten Mal hörte. Und gerade mit diesem Gefühl komme ich mir richtig ALT vor. Es ist normal geworden, hauptsächlich eine Menge Geld machen und berühmt werden zu wollen, mit was auch immer. Andere Werte wirken geradezu komisch: Öko ist zum Beispiel völlig out, Autos sind dafür wieder in – als ich 25 war, hätte sich jeder geschämt, in einem Auto mehr zu sehen als ein leider manchmal notwendiges Mittel zum Zweck. Heute geben junge Männer „Auto fahren“ auf ihrer Homepage ungeniert als Hobby an – und hier in Mecklenburg rasen sie gegen die Bäume, täglich ist so ein Testosteron-Toter zu beklagen!
Outfit ist alles, ein gestylter Körper, ein glattes Gesicht, alles verziert mit Markenware – und die Welt und ihre Phänomene werden danach beurteilt, ob sie LANGWEILIG oder SPANNEND sind.
Jetzt will mir sicher gleich jemand schreiben, das sei doch eine krasse Verallgemeinerung, es gäbe auch andere – geschenkt, klar gibt es die, aber sie haben eben nicht viel zu putzen! Felix zum Beispiel mailt mir:
Obwohl ich mich selbst (25) noch nicht für so alt halte, ist es mir unverständlich, warum so viele vorwiegend junge Menschen allen möglichen Fun-Aktivitäten hinterherrennen, deren einzig ersichtlicher Sinn es ist, jemand anderes reich zu machen.
Und Paul hat mir einen Text voller ernsthafter Überlegungen zum Thema „Aufrichtigkeit im Schreiben“ geschickt, ausgelöst durch meine Überlegungen über kommerzielle Medien (29.2.). Doch er landet im Nichts mit seinen Gedanken, weil er einen Wert wie „Aufrichtigkeit“ nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden zu fassen bekommt – und die Naturwissenschaft mit ihren rein quantitativen Methoden ist nun mal unsere herrschende Religion, wer könnte sich ihr entziehen?
Ich springe von diesem zu jenem, um mein Unbehagen an der Welt zu illustrieren. Und ich kann niemals wissen, ob das „nur“ eine Alterserscheinung ist: immer schon fanden die Älteren die Welt zunehmend unverständlich und zum Kotzen. Ein noch etwas älterer Freund leidet z.B. schwer unter dem schizophrenen Moral-Hype der Massenmedien in den aktuellen Politiker-Affairen. Im Ajatollah-Stil heftiger Entrüstung geben junge Moderatoren, Radio-Sprecher, Talkmaster und Journalisten Losungen aus, wer heute als Schwein zu gelten hat. Trennung von Nachricht und Meinung? Gestrichen, völlig altmodisch! Doch vor allem: Gerade die Massenmedien tun doch ALLES dafür, daß ein Mensch sich verdammt weit deformieren muß, um überhaupt den Schimmer einer Chance zu bekommen, in der Politik mitzureden. Wie kann dann also ein Medienmensch daherkommen und bei seinen Opfern jungfräuliche Unschuld in Sachen Machtpolitik einfordern?
An diesem Punkt sag‘ ich meinem Freund: jammere nicht, wende dich ab! Wo nur das Prinzip Hahnenkampf gilt, weil es nun mal Quote bringt, haben wir nichts verloren. Es hilft nicht, in den Massenmedien über deren Verfall und den Verfall der entsprechenden Öffentlichkeit zu lamentieren – das wird nur als „langweilig“ überlesen, sofern es noch jemand druckt oder sendet. Die Geste der Kritik wird sinnlos, man muß sich den Taten zuwenden.
Und da kehrt meine gute Laune wieder: Faßt Mut, ihr Over40s mit den unverbesserlich geistigen Interessen! Wenn der Mainstream unseren Bedürfnissen zuwider läuft, gehen wir doch eigene Wege, entwickeln eigene „Formate“ – die Technik von Bigbrother-Haus inspiriert z.B. geradezu, über eigene „Sendungen/Netzereignisse“ nachzudenken: Nicht hübsche Ratten in einem Versuchsfeld, sondern interessante Leute, die noch etwas wollen (außer Geld & Quote) und sich darüber auch mitreißend unterhalten können – ohne Talkmaster, der ihnen über den Mund fährt und mit selbst organisierter Technik (man braucht keinen Fernsehsender, um einen Videostream ins Netz zu schicken, und wenn etwas Interessantes gesagt wird, auch keine 30 Kameras!).
Das ist NICHT der offene Kanal, kein „Medium von unten“, nichts von der Art, wie es sich die wohlmeinende (und überhebliche) Politikpädagogik unserer jungen Jahre hat träumen lassen. Gerade diese Sichtweise: hier die tumbe Masse, da die Sender/Täter/Machthaber/Geldbesitzer ist nicht mehr „zeitgemäß“ im wahrhaftigsten Sinne. Es geht nicht mehr darum, sich gegen feste Ordnungen oder einen „Mainstream“ zu wehren, sondern darum, im Chaos zu navigieren. In einem NETZ gibt es keine FRONTEN (aber durchaus Krieg!). Es gibt nur Knoten, Verbindungen – oder es gibt sie nicht. Das Recht, Knoten zu knüpfen und Inhalte auszutauschen ist heute die Freiheit, die es zu verteidigen gilt, ist „erste Bürgerpflicht“. Darüber hinaus gibt es nichts von vorne herein „Gemeinsames“, sondern jede Gemeinsamkeit müssen wir selber durch aktives Setzen attraktiver Verbindungen erst herstellen.
Und das geht doch heute leichter denn je! Etwas Eigenes neben das Für-schlecht-befundene stellen, war noch nie so einfach, so billig zu veranstalten, so GEFRAGT wie neuerdings, wo sich der mediale Mainstream zum Minderheitenprogramm für Fitness-Center-Kunden verengt. Daß unsere „Formate“ nicht ankommen, müssen wir nicht fürchten: schließlich sind wir eine zahlungskräftige Mehrheit…. Wir müssen bloß die Scheuklappe unserer Generation absetzen, die uns auf „die Gesellschaft“ verpflichtet und unsere Contents oft so öde macht. Kehren wir zum eigentlichen Sinn von Kommunikation zurück: dem TOD, dem Nichts, der Sinnlosigkeit etwas entgegensetzen – nicht „dem Mainstream“ oder irgend einer anderen Übermacht, die uns vermeintlich vom Leben abhält.
Und nur keine Angst vor der Technik! Zur Not gibt es da diese jungen flexiblen Menschen, immer bereit, auf dem Zahnfleisch zu gehen….
Diesem Blog per E-Mail folgen…