Claudia am 09. März 2000 —

Das Leben, ein Kreis

Meine erste Erinnerung in diesem Leben ist eigentlich ohne Inhalt: eine warme, sonnenbeschienene Steinmauer, in den Ritzen frische Gräser, Blumen, eine bunte Decke, die ein wenig kratzt, eine Holzbank, auf der ich liege, meine Mutter, irgendetwas in einer Tasche kramend…. für all das hatte ich keine Worte. Ich sah es nur, doch ich sah es anders als je zuvor: ich spürte, daß inmitten dieser Formen, Farben und Gefühle ICH war. Daß ICH ein Wesen IN dieser Welt bin – und ich bewegte leicht den Oberkörper hin und her und bemerkte mit Freude, wie daraufhin der Anblick „schwankte“. Freude? Es war unglaubliche Euphorie, namenlose Exstase, zu realisieren, daß da neben dem Wahrgenommenen auch ein Wahrnehmender ist!

Im weiteren Leben wird dieser Wahrnehmende zum sozialisierten Ich, zur Person, die schmerzvoll lernt, ihre Interessen gegenüber anderen wahrzunehmen und darüber alles andere vergißt. Das Leben zwingt uns, das Kämpfen zu lernen, uns abzugrenzen und uns in der Folge „getrennt“ zu fühlen. Eine Sehnsucht nach dem „ganz anderen“ mag bestehen bleiben, bietet eine gefühlsmäßige Basis, um die Welt „verbessern“ zu wollen oder vom Paradis zu träumen, das vielleicht in Irgendwo (Utopia) existiert.

Nach vielen Versuchen, mein ganz persönliches Paradies auf dieser Welt zu schaffen (mit geliebten Männern, in Wohngemeinschaften, in politischen Bewegungen) und nachdem ich das Scheitern auf all diesen Ebenen kennengelernt hatte, dachte ich mir: da muß es doch noch etwas geben! Ich verschlang philosophische Schriften, die aber alle nur diese Gedanken aufs schönste komplizierten, jedoch an der Sache selbst nichts ändern konnten. Schließlich waren die spirituellen Lehren dran: Buddha bis Baghwan, Upanishaden bis Zen, Sufis, Gurdjeff, humanistische Psychologie und NewAge.

Hier lernte ich die „Erleuchtung“ kennen, natürlich nur gedanklich, doch immerhin war da ein neues Ideal. Ich begab mich in verschiedene Übungszusammenhänge, versuchte, zu meditieren, besuchte einige Kurse, die auf unterschiedliche Weise „wacher“ machen sollten und tatsächlich lernte ich eine Menge darüber, was ich bin. Wie Körper, Geist und Gefühl zusammenwirken und wie es möglich ist, „Probleme“ ganz anders anzugehen als nur durch Analyse, Planung, Beschluß, Willenskraft und Disziplin, die Mittel des Verstandes. All dieses Lernen blieb jedoch abstrakt und reichte nicht wirklich in den Alltag hinein, es blieben sporadische Wochenendbeschäftigungen, ganz so, wie die von mir verspottete Christenheit Sonntags eine Stunde für Gott einräumt. Auch mutete es mich seltsam an, was für ein Brimborium die jeweilige Szene um ihre Lehrer und Lehrgebäude entfaltet und wie viele versuchten, mit ihrem „Fortschritt“ Kasse zu machen.

Also nichts damit – ich lebte mein ganz normales Leben weiter, war Mitte dreissig und kam an ein Ende. Ich hatte alles erdenkliche ausprobiert, was mir ein bißchen mehr Glück, mehr Freiheit, mehr Entfaltung (auch: mehr Macht!) zu versprechen schien, war unglücklicher als je zuvor und vor allem unendlich gelangweilt: Beziehungsdramen, Politkämpfchen, Gruppendynamik in Arbeitsgruppen, all das war nur noch anstrengend und aufreibend, aber nicht mehr glücksverheißend. Ich gab alles auf, trat von allen „Funktionen“ zurück und verzog mich zeitweise in die Toskana, wo mein liebster Freund ein Haus hatte. Doch auch dort: kein Glück, kein „einfaches friedliches Leben“, sondern das übliche Hauen & Stechen, nur daß es jetzt um Hundegebell, um Wasser, um Zäune, um Schafe und Touristen ging. Ich war ein „entwickeltes Ich“ geworden, zu jedem Kampf in der Lage – aber wozu, um Himmels Willen?

Nach drei Jahren ohne jede Hoffnung, ohne Vohaben und Plan, ohne Vorstellung, was ich tun könnte, um wieder mit Freude in die Welt sehen zu können, erreichte ich den Tiefpunkt. Zuletzt führte ich eine Kneipe und mein Leben war darauf beschränkt, um den Tresen zu rotieren: heute davor, morgen dahinter. Ich ging auf dem Zahnfleisch, eine recht lange Zeit.

Und dann hörte es auf. Von heute auf morgen verließ ich die Kneipenwelt und stellte fest: Ich war irgendwie verblendet gewesen! Ich hatte mir mein Unglück selber angerichtet, indem ich stets daran glaubte, ich müsse alles selber machen und genau wissen, wo es lang geht. Dabei hatte ich nur noch mein Unglück täglich selber gemacht, aber das mit aller Kraft. Ich brauchte nur loslassen – und schon begann ich mich zu erholen, wurde gesund, fröhlich und neugierig auf die Welt, die mir ganz von sich aus täglich die Bälle zuspielt. Mein selbst geschaffenes Gefängnis war zerbrochen: das Leben ist INTERAKTIV! Nicht ICH muß alles manipulieren, damit es nach dem Morgen wieder abend, nach dem Winter wieder Frühling wird (ich überspitze absichtlich!), sondern das geht ganz VON SELBST. Ich muß mich dem nur hingeben.

Später dachte ich darüber: Das ist die Krise in der Mitte des Lebens. Man wächst zuerst hinein, es beginnt als große Freude, wenn das „ich“, der geistige „Link“ entsteht, an dem entlang wir eine Welt überhaupt erst bemerken können. Dann beginnt dieses Ich mit seiner Machtergreifung: Das Kind steht fasziniert vor dem Spiegel und tatsächlich bewegt sich da drüben die Hand, wenn es „seine“ Hand bewegt! Aus dieser gelungenen Manipulation entsteht der erste Lebensentwurf: ICH bin, ICH kann, und schon bald: ICH muss…..

Aber das ist nur die Hälfte der Wahrheit, die, die wir in der ersten Lebenshälfte entwickeln. Die zweite Hälfte ist die „Abwicklung“ dessen, was wir durch dieses Konzept aus uns selbst gemacht haben und – wenn es gut geht – die Erkenntnis der anderen Hälfte: Was ist das, das VON SELBST geht?

Vor diesem Hintergrund ist das Erlebnis, das ich eingangs beschrieb, die „Erleuchtung“ der ersten Lebenshälfte, das Erwachen zum Ich. Von der zweiten Phase aus betrachtet, ist es die erste „Verdunkelung“. Und das Wiedererleben des Nicht-Geschiedenen, das momenthafte Eintreten ins Ungetrennte, aus dem wir zu Anfang erwacht sind, ist die ‚Erleuchtung‘ genannte Erfahrung, die als Ideal über der zweiten Lebenshälfte steht. Ein Gruß vom Ende, auf das wir zugehen, ein Ende, das uns zurück vor den Anfang führt.

In unserer Gesellschaft sind Kreisbewegungen nicht beliebt, linearer Fortschritt ist angesagt. Wissenschaftler forschen daran, wie uralte Mütter noch Kinder bekommen könnten, Leute jeden Alters wollen gern aussehen wie 20. Man hält kollektiv an den Werten der ersten Lebenshälfte fest – und das macht es dem Individuum nicht einfach, die Hürden der zweiten Hälfte zu bestehen. Auf der anderen Seite vermitteln die spirituellen Lehren aller Zeiten vielfach den Eindruck, als könne die erste Hälfte ersatzlos gestrichen werden. Sie erscheint als bloße Verirrung, als falscher Weg, als Verstrickung und Verblendung – doch ohne den Weg in die Welt HINEIN gibt es keine Welt. Nur Leute, die die Welt absolut nicht mögen, können das als Ideal ansehen. Ich nicht.

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