Nun ist also die Internet-World in Berlin – und ich bin wieder nicht dort. Wenn ich so die ersten Artikel lese, die dazu erscheinen, sehne ich mich auch nicht ein Stück danach: Dieses intensive Kreisen um E-Commerce – sei es nun mittels Shopping-Malls oder mit „Content“ – ödet mich mehr und mehr an. Und nicht etwa aus Ressentiment gegen die Wirtschaft, schließlich bin ich seit 1997 an vielen Stellen FÜR eine intelligente Kommerzialisierung eingetreten. Es schien mir immer etwas blöde, zu erwarten, jemand werde jahrelang „aus Engagement“ eine gute Website mit aufwendigen Services pflegen, ohne je eine Mark damit zu machen. (Kontinuität muß bezahlt werden, denn an sich ist das Individuum sprunghaft). Die Puristen, für die das Reich der Sünde beginnt, wenn sie irgendwo ein Werbebanner sehen, erschienen mir als Relikt einer fernen Vergangenheit, in der man noch von „Konsumterror“ sprach – lang ist’s her.
Doch wenn ich jetzt sehe, mit welcher Inbrunst die „New Economy“ gefeiert wird, wie geistig flach die spät Erwachten aus Politik und den oberen Etagen der Wirtschaft nun ihre Lobgesänge auf die „Fantasie“ ablassen, kommt mich das große Gähnen an. Die Rede von den UNGEHEUREN UMWÄLZUNGEN, die darin bestehen sollen, daß ich nun ein Produkt per Mausklick erwerbe, das ich bisher im Laden oder im Versandhandel gekauft hätte, läßt vor allem Schlüsse auf die begrenzte Fantasie der Redner zu. Vielleicht haben sie ja was im Kopf, aber ihr Herz ist eine Wüste Gobi, ihre Kreativität ist lange schon wegdelegiert und was das Netz angeht, sind sie ahnungslos wie eh und je, weil sie es nicht SELBER NUTZEN.
Wieviele Millionen und Milliarden in den Sand gesetzt werden, weil Ahnungslose mit noch Ahnungsloseren Luftnummern schieben, will ich gar nicht wissen. Was soll’s auch, Geld soll schließlich FLIESSEN, horten wäre eher schädlich. Aber die Beschränktheit, die die blosse Orientierung auf Kaufen & Verkaufen, Besucherzahlen und Aktienkurse mit sich bringt, diese volle Ignoranz bezüglich menschlicher Interessen, die darüber hinaus gehen, stimmt mich gelegentlich traurig. Geboren werden, Mausklicken erlernen, ein bißchen einkaufen und sterben – ist es das, was sie meinen, wenn sie das Wort „Fantasie“ in den Mund nehmen?
Genug davon. Warum soll ich mir Gedanken über Männer mit grauen Seelen in grauen Anzügen machen? (Seit Anfang 19. Jahrhundert tragen sie übrigens im Prinzip diesselben Klamotten! Muss man sich mal vorstellen! Fantasie… ha!) Schließlich kenne ich das „andere Netz“, das ihnen wahrscheinlich lebenslang nicht begegnen wird:
- Das Fischernetz, ein großer Scanner, mit dem ich aus der unüberschaubaren Menge ganz unterschiedlicher Individuen DIE Menschen herausfinden kann, mit denen ich etwas zu tun haben will – unabhängig davon, wo sie wohnen oder arbeiten;
- das Netz gegenseitiger Hilfe: Learning by doing wäre nicht machbar, ohne die vielen Menschen, die bereit sind, ihr Wissen zu teilen und einander zu unterstützen. Unbezahlt, auf Gegenseitigkeit – und deshalb unübertrefflich glaubwürdig und effektiv;
- das Info-Netz: Keinem Arzt und keinem Beamten ist Mensch heute mehr so einfach ausgeliefert – eine Netzrecherche reicht, um über das, was Stand der Dinge, bzw. das, was gerade Recht ist, besser Bescheid zu wissen als das jeweilige Gegenüber;
- das Kunst- und Spiel-Netz: nicht das Erwerben fertiger Produkte ist spannend, sondern das Entwerfen, Gestalten, und Ausexperimentieren eigener, meinetwegen verrückter Webwerke und Initiativen – einschließlich der Kontakte, die dabei zustande kommen mit dieser spielerisch-zweckfreien gegenseitigen Inspiration;
- das Alltagsnetz: das komplexe tägliche Leben zu organisieren, wird immer einfacher und erfolgreicher, je lokaler das Netz wird. Einen Babysitter, eine Reitlehrerin, einen Tanzkurs, einen Chor suchen (oder gründen) ? Schauen, was im Kino oder in den Kneipen los ist? Neue Nachbarschaftsdienste aufbauen, wie Krankenbesuche oder Einkaufshilfen, jenseits der Großorganisationen? Alles kein Problem, ein riesiges Feld neuer Möglichkeiten….;
- das Kommunikationsnetz: Zu jeder Zeit, wann immer es mich überkommt, der Welt etwas mitzuteilen, kann ich das sofort tun. Mailinglisten, Newsgroups, Webboards, Cyberzines, eigene Webseiten und private Mailkontakte absorbieren bereitwillig meine „Eingabe“ – und es gibt sogar Antworten, anstatt dass mein „Kommunikat“ als blosse WARE in Verkaufsregalen und Schrankwänden versackt, den üblichen Gräbern einer lebendigen Kommunikation.
Das Netz als Spiegel & Versuchsfeld: Wer bin ich? Was ist ein Individuum? Was ist Wahrheit, Wirklichkeit, Virtualität? Wer ist DER ANDERE und was will ich von ihm? Wie weit reichen meine Möglichkeiten, wenn niemand weiss, dass ich ein Hund bin?
Wie armselig und menschlich bedauernswert, angesichts der UNGEHEUREN UMWÄLZUNGEN, die dieses „andere Netz“ für unser Miteinander und unsere individuellen Möglichkeiten bedeutet, auf die Anhäufung von Dollars fixiert zu sein! Und nicht einmal kommerzielle Erfolge sind sicher, wenn man das andere Netz ignoriert: Man denke nur an die lächerlichen Versuche, zur reinen Verkaufsförderung „Communities“ per Software zu erzeugen oder die soundsovielte schlecht kommentierte Linkliste als „hoffnungsvollen StartUp“ an die Börse zu bringen!
Wann immer „das grosse Geld“ die Hauptmotivation eines Engagements ist, geht das Projekt mit tödlicher Sicherheit am Ziel vorbei: das HERZ des „Kunden“ anzusprechen, der schließlich zwischen unzähligen Produkten wählen und für „herzlose Geschäfte“ auf unbestechliche Preisvergleichsseiten zugreifen kann. Viel Spaß beim Dumping! Laßt es Euch gutgehen auf den Pappmöbeln, die den Shareholder Value Eurer Unternehmen schützen – und wenn Ihr mal krank (oder gar ALT!) werdet, oder keinen Bock mehr auf das Rattenrennen habt: Das andere Netz ist immer da….
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