Dem SPIEGEL ist es derzeit wichtig, Google als die große böse Datenkrake anzuprangern. So wird der Spruch „Die Stasi war eine Organisation wie Google“ zur Headline eines Interviews mit dem von mir sehr geschätzten US-Soziologen Richard Sennet. Wer das Interview tatsächlich liest und nicht nur die Überschrift „scannt“, merkt schnell, wie tendenziös SPON hier agiert. Denn Sennett sagt schon auf Seite 1:
„Wer sich um die Privatsphäre sorgt, sollte sich um die Regierung Sorgen machen, nicht um Google. Wer sich wirklich um die ökonomische Ausbeutung von persönlichen Daten Sorgen macht, sollte sich mit dem Kapitalismus beschäftigen, nicht mit Google.“
Von Richard Sennett bin ich schwer begeistert, seit ich sein Buch Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: Die Tyrannei der Intimität gelesen habe. Zwar ist es „uralt“, denn die Erstausgabe erschien bereits Ende der 80ger, doch gehört es zu jenen zeitlosen Werken, die keine Aktualität brauchen. „Ein Werk intensivster Nachdenklichkeit, in dem sich analytischer Einfallsreichtum und historisches Urteilsvermögen zu einer großen Studie verbinden“ heißt es in der Beschreibung und das ist nicht gelogen! Das Buch hat definitiv meinen Horizont erweitert, etwa für Prozesse wie die „Psychologisierung von Politik“, die ja mittlerweile unsere Medienwelt dominiert und die Menschen davon abhält, sich wirklich POLITISCHE Gedanken zu machen: es wird viel mehr darauf geschaut, wie „menschlich“ bzw. sympathisch ein Politiker ‚rüber kommt, nicht darauf, was er in seinem Amt tatsächlich tut. Wie sich Privatheit und Öffentlichkeit in den letzten Jahrhunderten entwickelt und dabei schwer verändert haben, hatte ich so detailliert (und unterhaltsam berichtet!) auch noch nirgends gelesen – ich war hin und weg und kaufte mir fortan fast alle Bücher von Sennett. (Links zu seinen Büchern sind deshalb hier Partnerlinks!)
Aber zurück zum Interview: Im Gespräch mit Sennett wird wieder einmal die ganze Ambivalenz des Themas „Daten sammeln“ deutlich. Einerseits begrüßen wir meist die Bequemlickeit und Zielgenauigkeit, die erst möglich wird, wenn ein Anbieter viele Daten über unsere Interessen gesammelt hat. Andrerseits fürchten wir die Macht, die jedem zuwächst, der über diese Daten verfügt, bzw. sie zu immer genaueren Profilen zusammen fügen kann. So sieht auch Sennett einerseits im Netz die Zukunft und sagt:
„Per Maschine werden wir uns kennen und begegnen. Man muss die Gefahren verstehen, aber man muss auch verstehen, was die Maschinen-Kommunikation erst möglich macht, was im direkten Gegenüber nicht funktioniert hätte. Wir sollten auch nicht allzu hochnäsig gegenüber Facebook sein. Wenn man ein Teenager ist, schafft man dort seinen sozialen Raum“.
Und weiter:
„Die Grenze zwischen dem, was öffentlich ist und was privat, löst sich sowieso schon seit Jahrhunderten auf, unabhängig vom Internet. Die Idee, dass man sich in der Öffentlichkeit anders benehmen soll als zu Hause, ist für uns viel schwächer, als sie für unsere Vorfahren war. Bei Facebook nutzen die Menschen nur die technischen Möglichkeiten, um zu tun, was sie ohnehin tun würden: Sich mit anderen über sehr private Details aus ihrem Leben auszutauschen und daraus Gesprächsstoff zu machen. Auch hier: Das Internet hat das Problem nicht geschaffen, sondern der kulturelle Wandel.“
Dass die allgemeine Datensammelwut das Recht des Einzelnen zerstört, „dem Staat unbekannt zu bleiben“, findet Sennett andrerseits „extrem gefährlich“. Es ist nun möglich, Zielgruppen-genaue Gesetze zu machen, wogegen etwa Parlamentarier im 18. Jahhundert Gesetze machten, ohne die Bürger zu kennen, für die sie gelten sollten. Sinnvollerweise weist der SPIEGEL darauf hin, dass es doch eigentlich gut sei, realitätsnahe Gesetze zu machen, worauf Sennet dann mit dem Stasi-Vergleich kommt, die auch Daten gesammelt habe, noch ohne zu wissen, wofür man sie brauchen werde. Datensammlungen seien auf jeden Fall ein politisches Herrschaftsinstrument, das es so früher nicht gegeben habe.
Ok, das stimmt. Aber was sagt uns das? Keine Datensammlungen entstehen zu lassen, käme einem weitgehenden Verzicht auf technischen Fortschritt gleich – und mal abgesehen von locker hingeschriebenen Warn- und Brandreden denke ich, dass das nicht wirklich viele wollen.
Bequemlichkeit und Trägheit ist für mein Empfinden ein wesentliches Problem im Umgang mit diesem Spannungsfeld: Da gibts einerseits diejenigen, die sich keine Gedanken machen und „einfach vertrauen“ – eine gewiss unangemessene Haltung, auch wenn man davon ausgeht, dass ein Unternehmen wie Google WIRKLICH „not evil“ sein will. Dann sind da die Daten-Puristen, die am liebsten hätten, dass alle nur über „Tor“ surfen und so wenig Spuren wie möglich im Netz hinterlassen: Bye bye Web 2.0!
Wenn man aber einerseits die Errungenschaften und Möglichkeiten nutzen will, doch andrerseits den politischem Missbrauch gesammelter Daten fürchtet, dann bleibt nur der mühsame Weg, demokratische Kontrolle und Transparenz der Macht zu erkämpfen: immer wieder, immer mehr, immer wachsam!
Im Manchester-Kapitalismus konnten Unternehmer in ihren Fabrikhallen auch noch machen, was sie wollten. Heute haben wir ein großes Geflecht aus Gesetzen, Vorschriften, Tarif-Verträgen und Bürgerrechten, die diese Freiheit aus guten Gründen einschränken – ein Fortschritt, der im Reich der Daten sammelnden Unternehmen und Behörden eben erst noch etabliert werden muss.
Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs, hat dazu in seinem FAZ-Artikel „Der Mensch wird zum Datensatz“ eine Reihe bedenkenswerter Vorschläge gemacht. Zum Beispiel diesen:
„Um eine neue Datenschutz-Balance wirksam zu erzwingen, ist die Einführung einer aktiven, regelmäßigen Mitteilungspflicht von Behörden und Unternehmen über die gespeicherten Daten an jeden einzelnen Betroffenen notwendig. Wir nennen es den Datenbrief. Dabei müssen nicht nur die Rohdaten mitgeteilt werden, sondern auch alle abgeleiteten Informationen, eben die extrahierten Merkmale und Profile, inklusive der Möglichkeit, sofort die Löschung zu verlangen. Zudem bedarf es der persönlichen Haftung der Geschäftsführung für Datenverbrechen, sowohl bei illegaler Weitergabe und Verarbeitung als auch bei Sicherheitsschwankungen.“
Das durchzusetzen, heißt lange dicke politische Bretter bohren! Aber eine „Hau-Ruck-Lösung“ gibt es eben leider nicht.
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24 Kommentare zu „Sennett im SPIEGEL-Interview: Über Daten und Macht“.