Wie ich mich freue, bald wieder mehr Zeit zu haben! Ab Juli bekommt ein Job endlich eine konkrete Werkvertragsbasis, der mir in den letzten Monaten völlig aus dem Ruder gelaufen war: Planbare Stunden, genau bezeichnete Arbeiten! Man muß offenbar jeden Fehler einmal machen und in Teufels Küche geraten, bevor man klüger wird.
„Ich arbeite nicht, um Geld zu verdienen, sondern brauche Geld, um zu arbeiten“ – keine Ahnung, wer das gesagt hat, aber so langsam trifft das meine Realität. Wenn ich nicht genügend Zeit habe, eigenen Impulsen zu folgen, werde ich unglücklich und will die Maus am liebsten in den Müll werfen. Es ist einfach nicht mehr drin, das „echte Leben“ in die Zukunft zu schieben. Ich brauche TÄGLICH Zeit im JETZT, Zeit, in der ich auch im Kopf frei bin von etwaigen Konflikt- und Problemgedanken, die aus den Brotjobs für Andere erwachsen, so schön deren Projekte auch sein mögen.
Dieses Diary hat mich über die letzten vier Monate gerettet, immerhin bietet die Disziplin des (fast) täglichen Schreibens eine halbe oder ganze Stunde Ruhe und Besinnung. Doch reicht das alleine nicht, der Ideenrückstau wird immer größer, das Gefühl des Gefesselt-Seins wird unerträglich, wenn ich zu lange nicht dazu komme, eigene Netzprojekte zu entwickeln.
Ich bin drin – und jetzt?
Weil ich mich problemlos vervielfältigen und immer noch mit eigenen Vorhaben voll beschäftigen könnte, wundert es mich erstmal, wenn jemand fragt: Was soll ich im Netz? Lasse ich mich aber auf die Frage ein, wird schnell klar, daß es im Jahr 2001 eben nicht mehr so einfach wie 1996 ist, einen eigendynamischen Zugang zu finden. Damals – in der Urzeit – gab es keinen kommerziellen Sektor, das Web bestand im wesentlichen aus Universitätsseiten und überschaubar vielen privaten Homepages. Noch stritt sich niemand um Domainnamen, jeder Link war ein willkommenes Geschenk, die Leute hinter den Seiten zeigten sich kontaktfreudig und hilfsbereit. Jeder, der dazu kam, hatte den Eindruck, eine Art Paradies zu betreten, in dem jeder Narrenfreiheit genießt und WIR ALLE eine große Familie sind. Wohin man klickte, traf man auf interessante Experimente, es war ja alles so neu! Da fällt es leicht, selber zu experimentieren, umso mehr, wenn das Netz die Anmutung einer Welt jenseits der Real World vermittelt, von der da draußen im Alltag kaum einer etwas weiß.
Real und Virtual World sind mittlerweile zusammengewachsen. Zum einen bedeutet das für Neueinsteiger, daß ihr erster Eindruck durch den kommerziellen Sektor bestimmt wird. Mancher kommt garnicht erst dazu, das andere Netz zu entdecken. Zum anderen sind die Ansprüche an eine Website gestiegen, Seh- und Nutzungsgewohnheiten haben sich entwickelt und es gibt viele Fettnäpfchen, in die mensch treten kann. Drittens kann man heute damit rechnen, daß der Chef, der Beziehungspartner, der eigene Sohn, die Verwandten in Amerika und die Kunden von morgen „möglicherweise“ alles mitlesen. Kein Wunder, daß da viele zögern und sich fragen: Was soll ICH da um Himmels Willen kommunizieren?
Ein weiterer Aspekt ist die Unüberschaubarkeit und Komplexität des Netzes. Man muß schon einige Zeit alles austesten und viel forschen, um einen Begriff zu bekommen, was das Internet ist, um es für sich sinnvoll nutzen zu können. Das ist die Frage nach der Position, die ich in der Netzwelt einnehmen kann bzw. will, die Frage nach dem „Wohin?“.
Diese Frage kann ich natürlich nicht für jemand anderen beantworten – ich weiß aber, wie man NICHT zu einer Antwort kommt, nämlich, indem man Zuschauer bleibt und darauf hofft, daß sich die vielen Eindrücke zu einer Meinung verdichten werden, aus der dann eine gültige eigene HALTUNG entsteht, die man nur noch – womöglich ein- für allemal – umzusetzen braucht. Das Netz ist pseudo-unendlich und ich werde nie zu eigenen Aktivitäten kommen, wenn ich darauf warte, bis ich „alles gesehen“ oder auch nur „das Wichtigste“ erkannt, analysiert und eingeordnet habe. Man kann den Urwald nicht erkennen, man muß ihn betreten und sich durchschlagen. Oder eine große Stadt: Als ich 1979 nach Berlin zog, hatte ich wenig konkrete Vorstellungen, was ich dort tun würde. Und das war gut so, denn das, was mir dort begegnete, hätte ich sowieso nie vorausdenken und planen können. Binnen weniger Jahre hat mich diese Stadt völlig verändert.
Take up your tiny burdon, don’t be a tourist, heisst es in einem schönen alten Song von Leonard Cohen. Das gilt auch für das Netz. Die eigene „Last“, die Sorgen und Probleme, aber vor allem auch die Wünsche und Sehnsüchte, Ideen und Pläne ergeben das Material, den „Content“ für eigene Webseiten und Netzaktivitäten. E-Commerce ist ja derzeit ein so katastrophaler Flop, ein Milliardengrab, weil die kommerziell Aktiven in der Mehrheit nicht begreifen, daß sie die Menschen in ihren Aktivitäten und Bedürnissen UNTERSTÜTZEN müssen, anstatt ihnen andere, eigene, vorschreiben zu wollen.(KAUFEN ist ja allein kein Lebensinhalt, oder was meint Ihr?).
Mit der eigenen Homepage zu beginnen, ist jedenfalls ein guter Anfang. „Sich zeigen“ ist der erste Schritt – auch im Urwald ist der eigene Körper für die anderen Wesen sichtbar und in der Stadt hat jeder eine Meldeadresse, eine Wohnung, eine Basis. Je nachdem, was man zeigt, werden Reaktionen kommen, die wiederum Inspiration und Anreiz für die nächsten Schritte mit sich bringen – so generiert sich DER WEG im Chaos selbst, ich brauche ihn nicht zu planen, muß mich ihm nur hingeben und dabei genau darauf achten, welche GEFÜHLE die verschiedenen Möglichkeiten mitbringen. Möglichkeiten zu realisieren, ist ja sehr viel leichter geworden durch das Netz, umso wichtiger wird es, sich nicht im Halbschlaf und aus alten Gewohnheiten heraus Realitäten einzubrocken, die man sich nicht wünscht.
Auf meinem Desktop liegt die Datei ideen.txt, die ich heute mal wieder öffnete, weil ich vergessen hatte, was drin war. Da stand unter anderem „Selbstdarstellung im Web – Website, evtl. Buch“. Das hatte ich mir notiert, als ich mit Arbeit für andere völlig zugeschüttet war und mir zumindest Notizen für die Zeit „danach“ machen wollte. Nun läßt der Druck nach und nahezu automatisch gerate ich in Mail-Dialoge und Gespräche mit Menschen, die ihre eigene Weise suchen, sich im Netz zu zeigen. Und schon entsteht der Gedanke an eine Website zum Thema: mit kommentierten Beispielen, von denen man sich inspirieren lassen kann, mit KnowHow zum Selber-tun, aber durchaus auch mit einem Dienstleistungsangebot. Schließlich möchte heute manch einer eine Website, die dem „State of the Art“ entspricht, wenn auch ganz individuell.
Meine Dienstleistung wird wie immer eine Mischung aus kostenlos und mittel-teuer sein – schließlich will ich keine Standardseiten von der Stange anbieten, sondern Individuen portraitieren, sie in ihrem Prozeß zur Entwicklung einer bewußten Selbstdarstellung im Web unterstützen, jenseits bloßer Technik- oder Ästhetik-Fragen. Einen Co-Worker hab‘ ich schon, der als Grafiker und vor allem als engagierter Portrait-Fotograf so ein Angebot aufs Beste ergänzen könnte. Mal sehen, was aus dieser Möglichkeit, die jetzt noch „nur ein Gedankenspiel“ ist, entstehen wird.
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