Seit Anfang Mai bin ich schwer geschrumpft: Sieben Kilo weniger trage ich mit mir herum. Das ist eine ganze Menge, man stelle sich das mal in Form von Briketts vor! Manchmal gehe ich herum, springe ein bißchen auf und nieder und wundere mich, wie LEICHT sich das auf einmal anfühlt.
Nein, ich mache KEINE Diät. Abgesehen davon, daß mir dazu immer schon die Selbstdisziplin fehlte (ein paar Tage, aber dann…), sehe und lese ich ja überall, wie wenig erfolgreich das „wissenschaftliche“ Abnehmen ist. Da vertiefen sich die Leute in Set-Point und BMI, Fettmasse und Muskelmasse, Kalorien und „unverzichtbare“ Nährstoffe, proben verschiedene GESUNDE Ernährungen, zählen und bewerten den täglichen Input, forschen über das richtige Verhältnis zwischen Diät und Sport, verschlingen Bücher, die alle etwas Unterschiedliches empfehlen und berücksichtigen Erkenntnisse, die erfahrungsgemäß alle paar Jahre wechseln. Leiden dann am „Jojo-Effekt“, der nach der Diät mehr Kilos drauf schafft als vorher – oder sind ständig in einer asketischen Bemühung begriffen, das eigene Gewicht „im Griff“ zu halten.
Ich weiß, daß ich mich nicht „in den Griff“ bekomme – wer sollte da auch wen festhalten? Wenn ich übergewichtig bin, ist das der aktuelle und WAHRE Ausdruck meiner Haltung gegenüber dem Leben. Unzählige, zu großen Teilen unbewußte Regelmechanismen greifen auf der psychisch-physischen Ebene ineinander und erzeugen ein bestimmtes Eßverhalten, dessen Folgen sich dann als Gewicht messen lassen. Das zuviel essen selbst ist schon FOLGE anderer, komplex vernetzter, letztlich unüberschaubarer Ursachen, es liegt also auf der Hand, daß ein Eingreifen am Ende der Ursachenkette sehr mühevoll ist und nichts wirklich verändert. Was habe ich schon von einem „Wunschgewicht“, das mich den ganzen Tag auf Trab hält? Wie oft habe ich doch schon mitbekommen, daß Leute ABNEHMEN, dabei aber in Gedanken stets um’s essen kreisen: der richtige Zeitpunkt, die richtige Menge und Zusammensetzung, die gesunden und kalorienarmen Rezepte – man klebt fest und klebt immer weiter am ESSEN, ESSEN, ESSEN.
Wie hat es sich also verändert? Vorausgegangen ist eine Phase des bewußten Fressens. Zu Ende des Winters stellte ich fest, daß meine Besuche am Kühlschrank häufiger geworden waren, daß ich selbst beim Tanken nicht vor dem Einschieben von Schokoriegeln und Minisalamis zurückschreckte (für mich einer der Gipfel verrückten Freßverhaltens!) und daß das abendliche Kochen mehr und mehr zum lustvollen Höhepunkt des Tages geriet. Ich beobachtete diese seltsame Gier, die nach immer neuen Geschmackserlebnissen verlangt und auch nach einer gewissen MENGE an stofflichem Input, ohne die ein Gefühl der LEERE eintritt, das sich im Zustand der Sucht unangenehm anfühlt. (Ja klar ist das Sucht, was sonst?)
Trotzdem kam ich nicht auf den Gedanken, etwas zu „unternehmen“. Lange schon war ich daran gewöhnt, nicht dem schlanken Schönheitsideal zu entsprechen und hatte keine Probleme, mein nicht geringes Selbstbewußtsein aus anderen Bereichen zu ziehen. Doch erreichte ich so langsam ein Grenzgewicht, an dem das ganze zum spürbaren Leiden wird: mensch fühlt sich träge, jede Bewegung wird zur Last, die Klamotten spannen, Yoga-Übungen sind mit zunehmender Leibesfülle ein beschwerliches Unternehmen. Auch ohne eine Waage zu befragen, steht plötzlich das GEWICHT im Bewußtsein, es tut auf einmal weh.
Leiden ist, soviel ich heute weiß, eine Voraussetzung für Veränderung, aber noch kein hinreichender Grund. Die Suchtstruktur ist ja gerade darauf angelegt, auf üble Empfindungen und Gefühle immer mit einem MEHR an Suchtverhalten zu reagieren: so ein schönes italienisches Essen vertreibt doch auf die Schnelle jede Mißstimmung. Zucker und Fett sind natürliche Psychopharmaka, völlig legal und leicht zu beschaffen.
Glücklicherweise wurde es auf einmal Frühling. Mein erster Frühling auf dem Land – alles um mich her explodierte geradezu, erwachte, öffnete sich, verführte mit aufregenden Düften, schmeichelnder Wärme, schwellenden Formen und farbigen Blüten. Prickelnde Gefühle und Empfindungen erreichten mich von allen Seiten. Das träge Beharren auf dem gut verpackten, praktisch „abgedichteten“ Status Quo, auf dem sich meine Körperlichkeit häuslich eingerichtet hatte, geriet unter Druck. Ich reagierte auf diesen Druck, indem ich erstmal ein anderes Suchtmittel einsetzte und betrank mich einige Male bis zum Anschlag. Versuchte, auf diese ‚unvernünftige‘ Weise die intensive Lebendigkeit mitzuerleben, die um mich herum ausgebrochen war.
Mit Mitte 40 ist das kein reiner Spaß mehr und ganz sicher keine Dauerlösung. Am Tag nach einem Fest bei den Nachbarn, von dessen Ausgang ich nicht mehr viel wußte, fühlte ich mich derart niedergeschmettert, daß ich den Alkohol fürs erste aus meinem Leben verabschiedete. Gegen Mittag fand ich zwar zu den üblichen Zigaretten und zum Kaffee zurück – doch den Appetit hatte es mir gewaltig verschlagen! Gänzlich ‚ungesund‘ folgte ich weiter meinen Empfindungen, aß an diesem Tag überhaupt nichts mehr und verbrachte auch die nächsten Tage praktisch fastend. Ich war körperlich und psychisch schwach und völlig leer – und in diese Leere strömte nun ungehindert der Frühling, die hemmungslosen sexuellen Impulse der Natur.
Jetzt setzte das Denken ein: Wenn ich mich nicht weiter dicht machen wollte, mußte ich Formen finden, das Leben diesseits des Monitors und der Gutenberg-Galaxis lustvoller zu genießen – speziell dem Körper mehr Spielraum geben. Ich ging in die Sauna, zum Friseur, sogar zu einer Kosmetikerin, die mich mittels einer Gesichtsmassage in angenehmste Trance versetzte. Stieg aufs Fahrrad und fuhr täglich eine Runde durch blühende Wiesen und grünende Felder, fuhr in die Stadt und schlenderte durch die Shopping-Malls, erfreute mich an den vielfältigen Eindrücken und fand sogar einen Strand ganz in der Nähe, an dem ich nun oft meine Pausen verbringe. Auch gegenüber Menschen bin ich offener geworden: das Ereignis des Zusammenseins ist mir wieder wichtiger als mögliche „Zwecke“.
Nach den Tagen ganz ohne essen stellte ich fest, daß nun schon recht wenig „Input“ ausreichte, um an die Grenze eines Völlegefühls zu geraten, das ich auf einmal als unangenehm empfand. Der Magen war auf Normalmaß geschrumpft und alles, was ich „tun“ muß, ist, darauf zu achten, nicht derart in Gedanken versunken zu essen, daß ich diesen Punkt unbemerkt überschreite.
Das ist alles. Der Frühling ist zum Sommer geworden und noch immer werde ich weniger. Bin mal gespannt, wohin das führt und wo es dann aufhört.
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