Wo die Worte fehlen
Schon lange bemerke ich schmerzlich, dass in unserer deutschen Sprache wichtige Worte fehlen. Vor allem vermisse ich einen Begriff, der dem „Druck“ entspricht: Einen Text abdrucken, in Druck geben, einen Drucktermin einhalten – was sagt man da, wenn es sich um Web-Veröffentlichungen oder die Anzeige auf anderen Gerätschaften handelt?
Neben der Eingabemaske, in die ich diesen Text gerade tippe, steht ein Button mit der Aufschrift „Publizieren“. Ok, das ist – genau wie „veröffentlichen“ – ein Begriff auf höherer Abstraktionsebene, den wir hilfsweise gebrauchen, um den Mangel zu umschiffen. Will ich aber über das Veröffentlichen digitaler Texte etwas sagen, das nicht zugleich auch gedruckte Texte meint, wird es schwierig. Auch die englische Sprache, bei der wir uns in solchen Fällen oft bedienen, hat da nichts im Angebot. Wie seltsam nach nun doch schon gut 15 Web-Jahren!
Wenn der Tricorder Wirklichkeit wird…
Aber zur Sache: Ein Leser hat unter meinem Artikel zum derzeitigen „Google-Bashing“ angemerkt, dass „Informationsmonopole“ immer schlecht seien. Er meinte damit die kurzen Erklärungstexte, die Google (bzw. die Anwendung „Goggles“) auf entsprechenden Handys anzeigt, wenn man mit ihnen auf einen Gegenstand zeigt, z.B. ein öffentliches Gebäude. Zudem seien diese Texte „unter Wikipedia-Niveau“.
Ich erinnere mich noch gut an die beliebte Serie „Raumschiff Enterpreis“, in der die Helden regelmäßig mit dem sogenannten „Tricorder“ auf unbekannte Gegenstände zeigten und so eine ungefähre Antwort auf die Frage „was ist das?“ erhielten. Mit „Goggles“ kommt man dieser einst so futuristisch wirkenden Funktionalität nun schon ziemlich nahe. Und doch scheint das manche Menschen mehr zu verstören als zu erfreuen – warum nur?
Nicht Gottes Wort, nur Goggles Suchergebnis
Immerhin ist der Leser, der den Kommentar schrieb, über Wikipedia-Texte offenbar im Bilde: es handelt sich NICHT um die Offenbarung von Gottes Wort, sondern um freiwillig und unbezahlt verfasste Texte vieler Aktiver, die sich im besten Fall gegenseitig korrigieren, manchmal aber auch nicht. Das zu wissen, ist ein wichtiger Teil heutiger Medienkompetenz – bezüglich verschiedenster anderer Bildschirmanzeigen scheint es da aber noch sehr zu mangeln.
Was auf einem Handy als Erklärtext erscheint, hat zu stimmen – und weil das so ist, spricht man auch gleich vom „Informationsmonopol“ des Anbieters dieser Texte. Dabei ist auch Goggle nichts als eine automatisierte Suche quer durch Daten, die Google gesammelt hat, Daten, die irgendwann irgendwo von irgendjemandem ins Netz gestellt wurden, allenfalls mittels statistischer Abgleiche etwas mehr mit „Wahrheitsvermutung“ versehen als eine reine Zufallsauswahl.
Was man schwarz auf weiß nach hause trägt…
Wie lange hat es gedauert, bis Menschen begriffen haben: Was in einem Buch steht, muss nicht unbedingt die Wahrheit sein? Was man „schwarz auf weiß nach Hause tragen“ konnte, galt noch bis kürzlich als deutlich glaubwürdiger als die Meinung des Nachbarn oder die Rede des Vorgesetzen. Dem entsprechend war „ein Buch schreiben“ eine unglaublich honorige Tätigkeit, die der Gestalt des „Autors“ eine hohe Reputation brachte – alles vorbei! Spätestens seit das Book on Demand (Bod) das „Bücher machen“ ganz ohne Verlage und Lektoren jedem ermöglicht, der sich die Arbeit machen will, ist den allermeisten einst so Buch-Gläubigen klar: GEDRUCKT heißt nicht gleich WAHR!
Medienkompetenz durch Mitschreiben
Das Web war nun, anders als der Buchdruck, vom Start weg ein Mitmach-Medium. 1996 war HTML noch so einfach, dass jeder Ahnungslose binnen weniger Stunden eine Webseite online bringen konnte. Allerdings interessierten sich noch nicht viele dafür und in den Folgejahren wurde es komplexer und komplizierter: nur die Autodidakten der Anfangszeit konnten locker mitlernen, was es Neues gab. Für Neueinsteiger wirkte das Web schon bald viel zu elaboriert, um noch auf die Idee des Selber-Machens zu kommen. Erst die Blogs der Nuller-Jahre machten mittels ihrer vereinfachten Nutzungsweise wieder klar: Jeder kann ins Web schreiben, was er mag. Und dieses Mal wurde die Chance auch massenhaft ergriffen – und beiläufig gelernt: Was im Web steht und in den Google-Suchergebnissen angezeigt wird, muss noch lange nicht „die Wahrheit“ sein.
Wer allerdings noch nie selbst etwas im Netz veröffentlicht hat, íst immer noch leicht empört angesichts dessen, was es da so alles zu lesen gibt. Der alte „Glaube ans Gedruckte“ überträgt sich unbewusst aufs Web und dem entsprechend groß ist die Frustration: Soviel Schrott, Extremes, Oberflächliches, Hingerotztes – furchtbar, dieses Internet! Natürlich gibts auch jede Menge Passendes und sogar „Richtiges“, aber – oh Schreck! – man muss SELBST beurteilen, wem man glaubt und wem nicht. Sich zu orientieren und die vielen Info-Quellen zu filtern und zu beurteilen, ist eine Fähigkeit, die erst gelernt werden muss. Das ist unbequem, braucht Zeit und Befassung, weshalb sich viele damit begnügen, das zu kritisieren, was ihnen vorgesetzt wird – zum Beispiel vom Google-Suchalgorithmus.
Mobil machts auch nicht wahrer!
Indem das Netz mobil wird und das „Cockpit PC“ als Zugang zum neuen „Gedächtnis der Menschheit“ immer entbehrlicher wird, wird die Situation noch unübersichtlicher: Anzeigen auf kleinen Handy-Screens kann noch nicht „jeder“ selbst erstellen – aber doch viel mehr Leute als der gemeine Alt-Handy-User gewohnt ist. Zigtausende I-Phone-Apps werden von den Programmierern der Welt schon zum Download angeboten – und Google macht mit seinem offenen „Nexus“ der Abschottungs-Strategie von Apple (= es kommt nur ins Angebot, was Apple absegnet) Konkurrenz. Was im Web zu sehen ist, kann in vielerlei Formen auf dem Smart-Handy erscheinen -wird aber durch diesen Transfer nicht etwa WAHRER!
Und so werden zukünftig noch viele Menschen in Sackgassen landen, die an die 100%ige Stimmigkeit ihrer jeweiligen Navis glauben. Die „Street-View“, die so viele Vorgartenbesitzer auf die Palme bringt, veraltet verdammt schnell und zeigt falsche Ansichten. Und was als Erläuterung zu den Dingen der Welt als Erklärungstext erscheint, ist auch nur das, was irgend jemand mal zu diesem Gegenstand geschrieben hat. Durch Geräte und Alghoritmen haben wir nicht etwa ein Abo auf die Wahrheit. Sondern nur einen anderen Zugang zu unserer beschränkten, immer mal wieder fehlerhaften menschlichen Sicht der Dinge.
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16 Kommentare zu „Vom Glauben an die Wahrheit der Bildschirm-Texte“.