Claudia am 12. Juli 2000 —

Oberflächen

Wenn ich so auf die Oberfläche dieses Webeditors starre und darauf warte, dass irgendwelche Sätze Gestalt annehmen, frag ich mich manchmal, ob das eigentlich die richtige Umgebung für’s Schreiben ist. Ob dieser Anblick nicht schon unmerklich die Themen beeinflusst, die Stimmung, die Wortwahl, ja, die ganze Haltung zur Welt?

Editor

Und ob jemand, der noch „unter Winword“ schreibt, vielleicht die Worte anders setzt? Das wär‘ doch mal was für Leute, die Texte lieber analysieren als lesen: Schau auf meinen Desktop, und du verstehst…. :-)

Zu meiner Verwunderung lese ich tatsächlich die begonnene SciFi-Satire „Cosmo Pollite“ weiter, obwohl doch meine freundschaftliche Resonanzplicht dem Autor gegenüber (Hi Andreas!) mit dem Diary-Beitrag vom 10. Juli abgeleistet war (hätte ich das Buch beschissen gefunden, hätte ich es hier trotzdem nicht erwähnt!). Umso verwunderlicher, da doch „Die Anrufung des blinden Fisches“ von Bachmann-Preisträger Georg Klein wartend herumliegt, daneben Susanne Riedels „Kains Töchter“ – sie erhielt den „Preis der Jury“ und war meine persönliche Favoritin der Klagenfurter Veranstaltung, die ich erstmalig mit Spannung verfolgt hatte. Vielleicht bin ich für die „richtige Literatur“ ja doch nicht die richtige Zielgruppe, jedenfalls ist mein Rezeptionsverhalten eher schleppend, selbst dann, wenn ich mal ernsthaft interessiert bin, mitzubekommen, wie „zeitgenössische Literatur“ heute aussieht.

Riedel hab ich schon angelesen, im Klappentext heißt es: „Ein Buch, das fremd in unserer literarischen Landschaft steht. Inmitten der schönen neuen Leichtigkeit hat die Autorin den Mut, sich einer verdrängten Erfahrung zu nähern – daß das Leben unverfügbar und die Liebe schrecklich ist“. Die Sprache beeindruckt mich, doch die Art der Erzählung strengt mich an. Alles ist so furchtbar konkret, fortlaufend beschreibt sie Menschen, Tiere, Pflanzen, Ereignisse in einer extrem bildhaften Weise, zwingt mich in die Wahrnehmung von Einzelheiten, die ich normalerweise übersehe, weil ich sie als unbedeutend einstufe, so dass ich mich nach ein paar Seiten fühle, als müsse ich geistig Gewichte heben. Es sind Schilderungen, die absichtlich ganz nah an den Dingen, an der HARDWARE bleiben – und ich mag das nicht, es ist nicht meine Weise, die Welt wahrzunehmen.

„Bakkers Älteste hatte niedliche, kleine Schweißperlen auf der Nase und trug ein billiges Kaufhaus-Parfum: grüner Apfel, Pfirsich oder Kloreiniger. Die drei dicken Männer nebem dem Pfarrer stießen sich an, als sie ihnen die Waffeln servierte. Ich verschob den Stuhl und betrachtete Elsie, die jeden Bissen aufkaute, bis er flüssig wurde. Dann zog sie den Brei zwischen den Zähnen hindurch.“

Ich nehme diese Schreibe als einen Versuch, dem „realen Leben“ ganz nah zu kommen: was man sieht, hört, riecht, wird geschildert, nur selten, was man denkt. Ein Haften am Sinnlich-tatsächlichen, das sogar Gefühle in Ereignisse übersetzt („..sie waren mir alle unerträglich, als wäre meine Freundlichkeit mit Mutter im Otsch ertrunken“.)

Jenseits der konkreten Schilderungen (die manchmal durch staunen-machende Metaphern durchflochten sind!) empfinde ich ein solches Schreiben heute als Demonstration: Seht doch endlich mal wieder genau hin! Da, wo der durchgekaute Brei zwischen den Zähnen durchgezogen wird, liegt das echte Leben, liegt Wirklichkeit und Wahrheit, nicht in euren von der Erde abgehobenen Gedanken, all diesen zusammencollagierten Begriffsgewittern voller Anspielungen und schillernd-beliebigen Bedeutungen, aus denen die medialen Sekundärwelten gebaut sind.

Ich sehe die Legitimität dieses Versuchs, doch wird mich auch Riedel nicht bekehren, nicht befreien aus den Meta-Welten der Gedanken, die sich ungerufen auf alle Sinnlichkeit legen, solange ich es ihnen nicht absichtlich verwehre – manchmal wie Mehltau, aber öfter wie ein schützendes Kraftfeld, das mir die Unabhängigkeit gibt, selbst zu entscheiden, ob ich jetzt Lust habe, den durchgekauten Brei zwischen den Zähnen des Mitmenschen an mich heranzulassen.

Diesem Blog per E-Mail folgen…