Wäre es mir vor zehn Jahren zugestossen, dass jemand einen Text von mir als „nicht sehr einfallsreich und intellektuell“ bezeichnet hätte, wäre ich tief deprimiert gewesen und hätte alles daran gesetzt, nun ein Zitat-gespicktes, anspielungsreiches und kunstvoll komponiertes Denkwerk aus schillernden Begriffsgewittern abzulassen: gerade soweit verständlich, dass es ein Geheimnis zu bergen scheint, doch auf jeden Fall so unverständlich, dass sich der Leser ein bisschen blöd bis gnadenlos ungebildet vorkommt.
Warum ist das vorbei? Man könnte denken, es sei eine reine Altersfrage: Wer mit Mitte 40 noch immer nicht drauf pfeift, was Kritiker meinen, verpasst die wahre Freude am Publizieren. Aber nein, das ist es nicht allein: Heute als „nicht-so-intellektuell“ bewertet zu werden, wendet sich fast schon in Richtung Lob. Und nicht erst seit Zlatko ein Star ist.
Die verbliebenen Schwergewichte kritisch-intellektuellen Denkens, wie z.B. die ZEIT, beklagen bitterlich den Verfall der humanistischen Bildung, das Verschwinden eines Kanons und die allgemeine Verflachung jedweder Bildung zum Infotainment. In den Leserbriefspalten wird die letzte Schlacht um Sinn oder Unsinn von Altgriechisch und Latein geführt, wobei die Verächter deutlich die besseren Argumente haben. Und dass bei den ZEIT-Bestsellern Dietrich Schwanitz Kompendium „Bildung“ auf Platz zwei steht, legt den Schluß nahe, dass eine bemerkenswert große Zahl von Käufern denkt: Wie schön, BILDUNG jetzt in nur EINEM Buch! Wie praktisch, das nehmen wir mal so mit, wer weiss, wozu man es mal brauchen kann. (Ich überlege gerade, es auch zu kaufen, damit ich mitbekomme, was MAN, also der kollektive Bestseller-Leser, ab jetzt unter Bildung versteht).
Bildung, kritisches Denken, Wissen, historisches Bewußtsein, Intellektualität – all das spielt seltsamerweise eine Verlierer-Rolle bei der Herausbildung der „Wissensgesellschaft“. Persönlich neige ich dazu, immer gern bei einer Minderheit Mitglied zu sein (generationstypisch!), und so lebt in mir die Intellektuelle auf, wenn ich von Flachdenkern umgeben bin, doch beginne ich, die Oberfläche (und den FUN!) in den höchsten Tönen zu loben, wenn meine Gegenüber auf der ewigen Suche nach Sinn & Tiefe bestehen, womöglich noch in Codes, die allein den Zweck haben, gegen die blöde Restwelt abzuschotten.
Dass sich das Verhältnis zum kritischen Denken und tradierten Wissen derzeit gewaltig verändert, ist allerdings ein Fakt, spanndend, darüber zu meditieren, woher es kommt und wohin es führt.
Das Faktenwissen wandert in die Datenbanken, das ist bereits klar. Es ist lange schon zuviel, um von einem einzelnen Gehirn sinnvoll ausgewertet zu werden. Wir werden mit den Datenbanken verwachsen und lernen, jederzeit auf die gerade benötigten Informationen zuzugreifen. (Das Wissen, wann Karl der Große wo welche Schlacht gewonnen hat, erlebt ganz sicher weniger Zugriffe als das Herunterfahrproblem in Windows’98.) Ich wundere mich selbst, wie schnell der Gedächtnisverlust stattfindet – ohne Festplatte und Netzzugang bin ich ein halber Mensch, wissensmäßig gesehen.
Über Bildung wird es nie wieder einen Konsens geben, da hilft kein Jammern & Klagen. Und weil akademische Bildung nicht mehr unverzichtbare Eintrittskarte in den sozialen Aufstieg bedeutet (bei den Dot.Coms soll ein Studium eher störend sein…), wirkt sie mehr und mehr als Glasperlenspiel, als beliebige Kunst einer kleinen Gruppe, die ihren Denk-Hobbys nachgeht und in wachsenden Rechtfertigungsdruck gegenüber der zahlenden Gesellschaft gerät. Man will verwertbare ANWENDUNGEN sehen, akademische Wissensarbeiter müssen neuerdings ihre NÜTZLICHKEIT kommunizieren – und zwar in allgemein verständlichen Worten.
Ein anderes Bewußtsein entsteht: Trotz des Erfolges der Harry-Potter-Bücher ist nicht zu leugnen, dass der Mensch nicht mehr vorrangig durch lineare Texte konditioniert wird, sondern durch Bilder, Filme, Videospiele und Hypermedien. Mit diesen Inputs sinnvoll umzugehen, d.h. nicht blosser Konsument zu bleiben, sondern zu produzieren und zu projizieren, erfordert sehr viel unterschiedlichere Fähigkeiten, als das gemütliche Lesen und Schreiben eines linearen Textes. Während ich dies schreibe, sind z.B. verschiedene Programme offen, mit denen ich ständig arbeite: Editor, Bildbearbeitung, Mail, FTP, Scanner-Prog, Webbrowser, Windows-Explorer, Bild-Datenbank, Netzverbindung – ein Leser schrieb mir neulich, es falle ihm schwer, den Faden der eigenen Aktivität nicht zu verlieren: man schaltet hin und her, tut dies und jenes und vergisst, warum man angefangen hat und wohin man wollte – schadet aber nicht viel, komischerweise!
So entwickeln wir Multi-Tasking-Fähigkeiten nach dem Vorbild unserer PCs, doch wir verlieren das historische Bewußtsein und große Teile des Gedächtnisses und der Konzentrationsfähigkeit. Die Jüngeren und erst recht die Kinder entwickeln diese Features gar nicht mehr, bzw. nur noch rudimentär – so etwa wie ein Blinddarm noch der Rest einer früheren „Anwendung“ zu sein schein. (Ich versuche, das Positive zu sehen: wer vergißt, vergißt vielleicht auch, wo der Feind steht…:-)
Das kritische Denken, Dreh- und Angelpunkt des Geisteslebens im 20.Jahrhundert, ist dabei, abzudanken. Damit geht es wirklich ans Eingemachte unseres bisherigen Weltverständnisses. Viele Ursachen wirken daran mit: In einer Welt knapper Güter und beschränkter Möglichkeiten muss zwangsläufig um das Vorhandene heftig gestritten werden: KRITIK lebt ja davon, dass ich etwas anders haben will, als es ist, aber nicht einfach so mir nichts dir nichts eine Alternative leben kann. Mit der Vernetzung, Digitalisierung (=keine Raumbegrenzung, Copy & Paste) und Virtualisierung ändert sich die Lage: Auf vielen Ebenen des Alltags bin ich nicht darauf angewiesen, mich mit Machthabern und Eigentümern auseinanderzusetzen, sondern kann statt dessen selber etwas anderes machen – mit Leuten, die schon gleich auf meiner Welle liegen. Dank des Netzes kann ich sie leicht FINDEN, und muss nicht die, die nun mal da sind, mühsam von meinen Vorhaben (meiner sowieso häufig wechselnden „Linie“) überzeugen. Modulartig schließen sich Projekt-Netze von Individuen zusammen und lösen sich bei Bedarf wieder – Ringen um Konsens? Vorgestrig…. und viel zu LANGSAM! Wer Recht hat, enscheidet der Markt…
Und: Ich hätte selber nicht gedacht, dass der Zusammenbruch des Ostblocks derartige Folgen für das kritische Denken hat – schließlich hat ja kaum einer der hiesigen Denkerinnen und Denker fraglos mit den real existierenden sozialistischen Regimen symphatisiert. Trotzdem bedeutet der (praktisch kampflose) Siegeszug des digitalen Kapitalismus offensichtlich einen Wegfall der „großen Alternative“ – selbst wenn diese immer nur eine Utopie war. GRUNDSÄTZLICH kann man den Kapitalismus heute nicht mehr kritisieren, denn es ist nicht zu leugnen, dass das Konkurrieren, das Hauen & Stechen, der Wettbewerb, der Kampf bis hin zum Krieg menschliche Eigenheiten sind, die nicht durch eine zwangsweise einzuführende andere Ökonomie wegzubekommen sind. Nur Träumer können noch so denken.
Schlussendlich: Das durchschlagende Argument gegen das Lamento über den Niedergang kritischen Denkens, historischen Bewußtseins und aller damit zusammenhängenden Kultur ist die Tatsache, dass auch MIT diesen Features die Welt im 20.Jahrhundert in einen furchtbaren Zusand geraten ist (vom Holocaust bis zu Artenschwund und Klimakatastrophe) und nichts die Hoffnung am Leben hält, das kritische Denken alleine werde da etwas ändern.
Soweit für jetzt, sicher ist das Thema hier nicht erschöpfend behandelt – und absurd ist so ein Artikel auch, ist er doch von Anfang bis Ende kritisches Denken, das doch gerade abdankt… Ich hoffe, es gelingt mir, weiter auf dem Zaun zwischen
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