Es schüttet. Von meinem Fenster aus sehe ich die Zelte einiger Schloßbesucher, die nach dem Fest am Samstag noch ein paar Tage bleiben wollten – ob sie dem wohl Stand halten?
Die schönste „unwichtige Kleinigkeit“ an der Maisonette-Wohnung hier ist ein Oberlicht in der Diele, auf das der Regen hörbar prasselt, durchsichtiges Hartplastik. Fast wie im Zelt – nur ohne die Nachteile! Zelten hat mir früher sehr gefallen, meine Eltern leisteten sich ab 1963 einen Camping-Urlaub in Italien. Es war das große Abenteuer, auf das unsere Familie das ganze Jahr hinlebte – besonders für mich, denn in diesen vier Wochen konnte ich tun und lassen, was ich wollte, niemand kümmerte sich um mich.
Die heutigen Kinder sind anders. Wenn sie keine „Anreize“ bekommen und niemand ihnen sagt, was sie jetzt tun sollen, haben sie ein Problem. Ihr Terminplan ist üblicherweise voll, sie werden von hier nach dort gefahren, Schule, Kindergarten, Reiten, Tanzen, Nachhilfe – immer aktiv, hochmobil, und immer ist jemand da und dafür zuständig, dass dem Kind etwas geboten wird, dass nichts passiert, dass keine Lücken im Ablauf auftreten. Ein völlig anderes „In-der-Welt-sein“ als das Lebensgefühl, das ich als Kind kannte.
Mein Ziel und „Normalzustand“ war das Mir-selbst-überlassen-sein. Spätestens nach den Hausaufgaben verabschiedete ich mich „in den Hof“: Eine dreieickige Wiese mit Sandkasten und ein bisschen Gebüsch, die den Mittelpunkt des 50er-Jahre-Wohnblocks bildete, in dem wir lebten. Dort traf ich andere Kinder, Sommer wie Winter, erlebte wunderbare und schreckliche Dinge, und nie sagte uns jemand, was wir tun sollten. Jede Einmischung der Eltern erlebte ich als Übergriff, als Beschränkung der kleinen Freiheit, die diese paar Stunden am Tag für mich bedeuteten. Manchmal blieb ich ganz allein, weil die anderen Kids nicht kommen durften, dann lebte ich in meiner Fantasiewelt aus gutmütigen und gefährlichen Gespenstern, verrichtete meine Zaubereien, spielte für mich allein und war glücklich, ohne es zu wissen.
Irgendwie tun sie mir leid, die heutigen Kinder. Werden sie je „zu sich“ kommen? Wie sollen sie später etwas aus sich heraus tun, wenn sie von Anfang an mit jeder Menge INHALTEN zugeschüttet werden? Wie kleine Monster sehe ich sie darum kämpfen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und weil kein noch so bemühter Elternteil ihren Ansprüchen genügen kann, werden sie schon früh an die Medien und Apparate gesetzt, die unermüdlich Action bieten können.
Wie IHRE Welt wohl aussehen wird? Angesichts solcher Gedanken erscheint es verdammt absurd, die Lebenszeit deutlich verlängern zu wollen. Was würde es mir bringen, in einer Welt zu leben, die auf ein ganz anderes Bewusstsein zugeschnitten ist? Ich wünsch‘ mir ja auch keinen Urlaub auf dem Mars.
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