Mein Huhn ist tot. Am 9.Juni hatte ich ihm aus dem Ei geholfen, gestern ist es gestorben. Wahrscheinlich hatte es eine Lungenentzündung, vielleicht ist es während eines heftigen Regens nicht in den Stall gekommen. Gestern morgen jedenfalls kam der Nachbarjunge und berichtete, dass es nicht frisst. Ich ging in den Hühnerstall und wirklich: Es stand nur herum, würgte und atmete schwer. Da setzte ich es in eine warme Schachtel in die Küche und versuchte, es zu füttern. Es trank nur noch einmal, am Nachmittag war es dann schon zu Ende.
Sechs Wochen Leben – war es das wert? Ich hätte es gleich im Ei lassen sollen, aus dem es sich nicht selber befreien konnte, meint mein liebster Freud. Nicht eingreifen, alles seinen Gang gehen lassen… Vielleicht ist das richtig, doch hätte es mich um die Erfahrung gebracht, so ein kleines Huhn zu erleben und selber hätte es dann ja nicht mal sechs Wochen gelebt. Sechs Wochen – besser als nichts? Oder überflüssige Gelegenheit, am Leben hängen zu lernen und umso schwerer zu sterben?
Mit solchen Fragen bin ich nicht mehr in der Hühnerwelt, klar. Sowieso war ich schon ab morgens furchtbar deprimiert, ganz ohne ersichtlichen Grund: hormonelle Einflüsse, dachte ich, während ich so mit dem All haderte. Das mit dem Huhn brachte dann den Stimmungsgipfel, die ganze Existenz färbte sich schwarz: Wenn Gott keine Erfindung wäre, wäre er zumindest kein Stück besser als wir: Schafft die Welt mit all ihrem Elend, nur für den Geschmack von Himbeereis, für ein paar Sonnenuntergänge und Orgasmen…. eine Zumutung!
Meine Trauer um das sterbende Huhn: selbst eine himmelschreiende Absurdität. Täglich sterben Millionen Tiere und Menschen, gerade ist eine Concord vom Himmel gefallen – und ich trauere um ein Huhn! Gedanken an Tod & Sterben verschlagen zuerst den Appetit, doch dann gelüstet es mich nach Fleisch. Ich hätte sogar, wäre ich nicht von Gedanken angekränkelt, locker ein frisch geschlachtetes Hähnchen vom nahe gelegenen Bio-Hof kaufen, zubereiten und genüßlich verspeisen können. Ich beliess es bei einem Steak, eine Scheibe tote Kuh sollte zur Wiederherstellung meiner Laune genügen.
Zwei Wochen Karibik-Kreuzfahrt waren der Grund, weshalb sich hundert Leute in die Concorde setzten. Stand das dafür? Täglich fliegen unzählige Menschen in den Urlaub und nur wenige denken daran, dass sie ihr Leben auf’s Spiel setzen, indem sie sich der Technik anvertrauen. Ja, ja, es ist sicherer als Auto fahren, sagen alle. Aber im Auto habe ich zumindest DAS GEFÜHL, einen Einfluss zu haben, so wie der Pilot im Flugzeug weniger Grund zur Angst hat. Ausserdem stehen die Überlebenschancen beim Autounfall besser, es droht auch psychisch keine Situation, die dem Abstürzen mit dem Flugzeug gleich käme: Dasitzen und wissen, dass es jetzt runter geht…
Ich fliege also nicht, bin nur zweimal im Leben geflogen, es ist schon lange her. Beide Male mit Todesangst, das zweite Mal war es besonders schlimm, da ich gegen meinen Willen am selben Tag zurückfliegen mußte: Ich war bereit gewesen, nach vielen Jahren ohne Urlaub für vier Wochen Tunesien mein Leben zu riskieren, eine bewußte Entscheidung. Doch die Grenzer setzten uns in den Rückflug, weil der Pass meines Freundes abgelaufen war. Ich saß im Flieger und dachte: Wenn du jetzt abstürzt, hast du noch nicht mal die vier Wochen Urlaub gehabt!
Im ICE ergeht es mir nicht viel besser, aber ein paar Mal im Jahr gehe ich das Risiko ein. Und jedes Mal wird mir ganz mulmig, wenn die Geräusche mal ein wenig seltsam sind oder es ein bisschen holpert. Einmal stoppte der Zug in einem viele Kilometer langen Tunnel, der Geruch von verbranntem Gummi breitete sich aus und wir standen 15 Minuten still. Die Leute taten alle so, als wäre nichts, blätterten in Zeitungen – doch ich spürte die wachsende Panikstimmung. Schrecklich. Der Zug hatte einen Motorschaden, rollte dann langsam in den nächsten Bahnhof. Nochmal davongekommen!
Angesichts von 6 Milliarden Menschen, die sich über den Planeten ausbreiten und fortschreitend alles andere vernichten, ist dieses Hängen am eigenen Leben unlogisch und verrückt. Wir können denken, aber es hilft uns nichts. Die Biologie, die Physis, der Körper hat seine eigenen Dogmen, über die man nicht diskutieren kann. Und nicht einmal der WUNSCH, die Todesangst zu verlieren, ist haltbar: Sie ist ja nur die Rückseite der Lebensfreude, die niemand bereit wäre, loszulassen.
Eine absurde Existenz, weil wir sehen und denken können. Sehen, wie die Natur in jedem Moment Myriaden von Wesen vernichtet oder gar nicht erst sich entwickeln lässt. Wie sie auf Individuen, auf ganze Arten und auf Elend, Schmerz & Leid scheisst. Wie auch wir selber als Natur da nicht herauskönnen: jeder ist immer sich selbst der Nächste, nur in Situationen des Reichtums wird geteilt – manchmal.
Und hören und lesen, wie Ökologen, Natur-Freunde und Mystiker dies alles so WUNDERBAR finden, diese Fülle, dieser Reichtum, die ganze Großartigkeit des Universums. Gelegentlich einstimmen ins große JA, wenn gerade die Sonne scheint und kein Huhn stirbt.
Weil aber gerade ein kleines Huhn gestorben ist, nehme ich mir einen kurzen Urlaub vom Lobgesang auf das Dasein. (Es gibt ja Anlässe genug, das Huhn ist nur ein Schleusenöffner!) In der SCHWARZEN STIMMUNG sehe ich keinen Grund, der NATUR etwas zu verzeihen. Kann im Gegenteil gut verstehen, dass man immer weiter – wenn auch erfolglos – versucht, sie zu überwinden, sie auszutreiben, sie mittels Technik auf Abstand zu halten und in Medien zu virtualisieren, dass man sie lieber im Fernsehen in netten Tierfilmen erlebet als zuhause in der stinkenden Ökotonne. Und warum nicht alles umbauen, neu konfigurieren? Pflanzen, Tiere, ja Menschen hinbasteln, die vielleicht BESSER sind als das, was uns der Moloch NATUR vorwirft? Wenn ich mir allein anschaue, was Menschen alles angerichtet haben und noch immer anrichten, ist doch kaum etwas dringlicher, als der Eingriff in die Keimbahn! Unsere Steaks könnten wir vielleicht direkt im Reagenzglas klonen, dann hört endlich das Schlachten auf. Und vom Rest behalten wir „von jedem Tier ein Paar“ (naja, ein paar mehr…), gehalten in wunderbar artgerechten Zoos. Wie wir den Menschpark auf eine verträgliche Zahl herunterfahren, weiss ich nicht, vielleicht findet ja die Pharmaindustrie ein Verhütungsgas, das man der Atmosphäre beimischen könnte….
Genug gesponnen. Die schwarze Stimmung taugt nicht zu Taten, nicht einmal zu sinnvollen Gedanken. Da vertiefe ich mich lieber in Ciorans „Vom Nachteil, geboren zu sein“ und warte, bis die angeborene Lebenslust wieder überhand nimmt.
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