Schreiben heißt, ganz nah bei mir zu sein.
Jetzt steht er da, dieser Satz. Zwar ist er nicht in Stein gemeißelt, hört sich aber so an. Und gleich fühlt sich das Denken provoziert und rattert Kommentare herunter: Stimmt nicht, wenn du über Berlin oder HTML schreibst, bist du nicht bei dir. Und wenn dir nichts einfällt, wo bist du dann? Und überhaupt, was soll der Scheiß? Wer bitte ist hier bei wem? Woher fällt etwas ein – und wohin fällt es dann?
Wenn ich all diese Einwände als mögliche Leserstimmen ansehen würde, käme ich nicht einen Satz weiter. Würde mich in Erläuterungen verheddern, immer gleich dazu sagen wollen, was die Worte bedeuten und was nicht, würde Satzungetüme verbrechen, die kein Mensch mehr lesen mag und all das wäre erfolglos, denn mit jedem zusätzlichen Wort schreibt sich das „Problem“ nur fort. Die Bedeutung entsteht im Kopf des Lesers, daran kann ich nichts ändern. Es gibt kein „Objektives“ in der Welt der Sprache: Sage ich „Haus“ sieht der eine die Berliner Mietskaserne, der andere eine Villa oder gar die Wellblechhütte in einem Drittwelt-Slum. Auch wenn ich das Haus näher bestimme, bleiben die Bilder in den Köpfen unterschiedlich – siehst du das Mietshaus eher verkommen oder saniert? Mit Grafitti an den Wänden oder frisch gestrichen?
Wenn es mit dem Haus schon so geht, wie ist es dann erst mit Begriffen wie „Freiheit“, „Liebe“, „Krankheit“, „Recht“, „Schönheit“? All diese Worte benutzen wir ständig und gehen davon aus, dass die Anderen schon irgendwie wissen, was gemeint ist. Zu unrecht, was sich nur allzu schnell zeigt, wenn man ein bisschen nachbohrt. Gerade las ich einen Artikel, der den Begriff „Freiheit“ einzig für die innere Freiheit (= Freiheit von…) gelten ließ und die äußere Freiheit (Freiheit zu…) aus der Wortbedeutung ausschloss. Von den vielen möglichen Bedeutungen des zu Tode genutzten Wortes „Liebe“ will ich gar nicht erst anfangen!
Ein Wunder!
Dass wir überhaupt kommunizieren können ist angesichts dieser Verhältnisse ein echtes Wunder. Eines, das seltsamerweise kaum auffällt, solange wir reden, wohl aber, wenn man mit dem Schreiben beginnt. Das Hinschreiben ist ein viel bewussteres Tun als das gewöhnliche „Geschwätz“, kaum will ein Gedanke Satzform annehmen, kommen von allen Seiten Fragen auf: Was meine ich damit genau? Ist es auch wichtig genug? Wie kann das missverstanden werden? Ist es „gut“? Der Versuch, zu schreiben, endet sogleich in der Schreibblockade, denn das Fragliche jeglichen Mit-Teilens wird drastisch spürbar und überdeckt den ursprünglichen Schreibimpuls: einen Eindruck zum Ausdruck bringen.
Ob und wie man zum ursprünglichen Impuls zurück findet und in den Fluss des Schreibens kommt, ist für jeden anders. Bei mir war es das Schreiben AN ein konkretes Gegenüber: lange Briefe (Schneckenpost!) an einen Freund, der nach Italien gezogen war, Briefe an meinen Yoga-Lehrer über die Erlebnisse in den Übungsstunden, später über Gott und die Welt – und noch heute gibt es immer wieder mal einen solchen „ersten Leser“, dem gegenüber ich keinerlei Hemmungen habe, auch Intimes und Widersprüchliches zur Sprache zu bringen.
Gemeinsam ist diesen Adressaten, dass sie sich üblicherweise nicht ins „Dialogische“ hineinziehen lassen, dass also keine ausufernden Rede-Zitat-Widerrede-Gespräche entstehen, die mich nur innerlich zerfasern und an den Andern denken lassen anstatt an das, was ich ausdrücken möchte. Sie müssen mir wohlgesonnen sein, damit ich mich überhaupt traue, „aus mir heraus“ zu gehen, dabei aber völlig souveräne Individuen bleiben, in keiner Weise von mir abhängig. Wenn ich nämlich Angst haben muss, zu enttäuschen, zu verletzen oder zu frustrieren, dann bin ich schon nicht mehr im Schreibfluss, in der eigenen Wahrheit des Augenblicks, sondern in taktischer Kommunikation.
Schreiben heißt, ganz nah bei mir zu sein. Das konnte ich erst in der „Verlassenheit“ entdecken, in Schreibsituationen also, in denen nicht gleich auf alles eine Antwort kommt, an der ich mich „ausrichte“, bewusst oder unbewusst. Ich weiß dann einfach nicht, was der Andere über meinen letzten Text denkt, und wenn ich weiter schreiben will, muss mir das egal sein. Genau an dieser Stelle befreie ich mich vom Anderen und wende mich mir selber zu. Schreibe vielleicht etwas, das so ziemlich das Gegenteil von dem sagt, was ich vor zwei Wochen meinte, einfach so, weil es eben gerade so ist. Immer noch kein Entsetzensschrei? Kein „aber du hast doch neulich gesagt…“? Wunderbar! Dann kann ich ja so weiter machen! Kann immer tiefer in mich hinein gehen und das Bewerten beiseite lassen, kann die kritische Vernunft bis zum nächsten Geschäftsbrief beurlauben und einfach schreiben, was ich sehe, fühle, erlebe – Eindrücke zum Ausdruck bringen, ganz ohne Zensur. Ich erkenne, was ich bin und was ich nicht bin, und wie sich das fortlaufend verändert.
Jemand sein: Das taktische Ich
Irgendwann gibt es keinen Weg mehr zurück. Das „taktische Ich“ existiert zwar immer noch, doch es erscheint als Last und Beschränkung, wo immer es sein angstvolles und gefallsüchtiges Haupt erhebt. Nicht nur beim Schreiben, sondern auch im Leben. Auf einmal spüre ich genau, wenn der Fluss stockt, wenn ich mit der mühevollen Arbeit des „Jemand Seins“ beginne – und das fühlt sich überhaupt nicht gut an. SO oder anders sein, um zu gefallen, ist keine Methode, das Glück zu gewinnen, sondern der kürzeste Weg in die Hölle.
Dabei ist ganz egal, ob ich mir selbst gefallen will oder Anderen, genau besehen ist das sogar dasselbe. Im Zorn auf die Anderen zu schauen, sei es als „Gesellschaft“, „breite Masse“, „Mainstream“ oder „die Herrschenden“, um sich dann zwanghaft abzugrenzen und „anders zu sein“, ist auch nur eine Form der Unfreiheit. Dabei wird versucht, einem „Selbstbild“ zu entsprechen, das in Auseinandersetzung mit einem „Weltbild“ entsteht. Alles nur Bilder, Bilder einer Ausstellung, deren Besuch ich niemandem empfehlen kann.
Gehe ich selbst noch hin? Leider ja – immer wieder mal meine ich, keine Wahl zu haben und verfalle dem subtilen Terror des alltäglichen Funktionierens. Versuche also, Erwartungen zu entsprechen, einem Publikum oder einer Einzelperson zu gefallen, alles „richtig“ zu machen und niemanden zu irritieren oder gar zu verletzen. Bin dadurch sofort im Reich der Angst (zu versagen, etwas zu verlieren, nicht zu erreichen…) und in der Welt des Kampfs. Sehe nicht mehr, was ist, sondern zwinge alles in eine Richtung, die sein soll. Was die Anderen denken, was sie verstehen oder nicht verstehen, wird auf einmal sehr wichtig. Ich muss diskutieren, mich auseinander setzen, mich durchsetzen oder mühsam anpassen – auf einmal verhandle ich wieder über Dinge, die ich bereits gelernt hatte, alleine zu meistern, rechte herum über die „richtige Sicht“, lasse mich beliebig in Frage stellen und versuche, GUT zu sein.
Forget it! Es ist nicht nur anstrengend, sondern auch nutzlos. Jeder „Erfolg“ bedeutet nur einen neuen Trakt im selbst gebauten Gefängnis, denn ich muss ja alledem, was ich „um zu“ erschaffe, ohne dass es wirklich aus mir selber kommt, auch künftig genügen. Zumindest solange, wie das „taktische Ich“, das all das zu brauchen meint, das Sagen hat.
Wenn ich mich aber hinsetze, um zu schreiben, ist all das wie weggewischt. Dann setze ich mich nicht mit etwas oder jemandem auseinander, sondern mit mir selbst zusammen. Ich habe kein Thema, sondern schaue dem Film des Daseins zu, werde still und warte ab, was für „wichtige Szenen“ sich zeigen werden. Nicht der Text, der am Ende heraus kommt, ist das Entscheidende, sondern die Haltung, die ich dabei zu „allem, was ist“ einschließlich meiner selbst einnehme. Einmal eingeübt, will ich sie nicht mehr missen. Sie fühlt sich an wie das Baden in einer kühlen klaren Quelle nach einer langen anstrengenden Wanderung.
Ich nenne es Buchstabenglück.
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