Die Klage ist nicht neu, sondern begleitet mich seit ich 1996 meine erste „Homepage“ ins Netz stellte: Du lieber Himmel, da kann ja JEDER einfach so rein schreiben! Und beim Können bleibt es nicht, immer mehr Leute tun es tatsächlich: berichten aus ihrem täglichen Leben, bekennen ihre Vorlieben und Abneigungen, loben und kritisieren, lästern und plaudern, philosophieren und analysieren – und stellen sich damit selber dar, ringen um Aufmerksamkeit im Tsunami der tägliche Informationsfluten.
Die Frage nach der Bewältigung und Filterung all der vielen Inhalte, die durch das neue Mitmachweb über uns gekommen sind, wird derzeit vielfältig und engagiert diskutiert. Auch mögliche Abhängigkeiten und eine Art Suchtverhalten bei den „allzu Vernetzten“ werden immer mal wieder thematisiert. Darum soll es hier mal nicht gehen, sondern um drei andere Fragen:
- Was stimmt manche, die dieses Geschehen beobachten, so ärgerlich und aggressiv?
- Und: Gibt es mittlerweile zu viele Sender und zu wenige Empfänger, die all diese Botschaften auch hören, lesen und anschauen wollen?
- Was ist es wert, veröffentlicht zu werden? Gibt es eine Pflicht zur „Relevanz“?
Ein Kommentierer namens „Zement“, der – wie alle, die mal so richtig auf den Putz hauen wollen – lieber anonym bleibt, postete gestern einen ellenlangen aufgebrachten Text unter einen Blogbeitrag, der das allüberall zunehmende SENDEN von Inhalten jedweder Art durch den Kakao zieht. Hier ein Auszug:
„liegt hier eine neue Form von Gesellschaftspsychose vor, eine Art telekommunikativer Publikumswahn inkl. Medien-Overkill-Zwangsneurose? Lustig. Obschon. Auch ein klein wenig beengend. An & für sich. Find ich ja. Übrigens. Nachzulesen auf meiner neuen Homepage. Brandneu. Und top-betreut. Da werden auch meine neusten Blähungen und Brieffreundschaften eingehend erörtert. Mehr als eingehend. Geradezu fachkundig. Und keine Angst: alle halbe Stunde ge-Up-Dated. Aber subito. Hier wird Ihre kostbare und unersetzbare Aufmerksamkeit kein Sekündchen sich selber überlassen. Aber iwo. Gesendet. Und gespeichert. Ob auf Podcast oder auf CD. Amen. Bzw. Publikum. Punktum. Senden. Senden. Ich sagte SENDEN. SENDEN. SENDEN AAAAAAA SENDEN SENDEN SENDEN! Boa, gottlob, jetzt hats doch noch geklappt IHRE NACHRICHT WURDE GESENDET UND GESPEICHERT, boa, nochmal gutgegangen, haarscharf, Schwein gehabt, ich lebe. Amen. Bzw. Publikum. Online. Im Netz. On the line. Auf der Welt. Existent. Manifest. Authentisch. Da. Dasein. Daseiend. Gesendet.“
Interessiert das jemanden?
Mich hat dieses Posting in einer Situation erwischt, in der ich mir gerade sowieso Gedanken um die Relevanz eigener Artikel machte – und zwar ganz konkret. Seit Wochen beschäftige ich mich mit der Auswahl eines mobilen Computers: viele Stunden suchen, lesen, bewerten, lernen – und all das wollte ich nun ganz gerne auch bloggen! Beginnend beim Anlass der Suche, fortfahrend mit der Qual der Wahl (Netbook? Notebook?) und dem Schwanken zwischen zig Möglichkeiten, bis hin zum Kauf und zur darauf folgenden Erfahrung mit der Nutzung.
Warum dieses Mitteilungsbedürfnis? Schließlich kauften sich Hunderttausende in den letzten zwei Jahren so ein Netbook, das ist nun wirklich „nichts Besonderes“. Ja, stimmt! Allerdings hab‘ ich bei meiner Suche und Entscheidungfindung originäre Erfahrungsberichte Anderer nur so verschlungen! Sie waren mir freudig aufgefundene Stecknadeln im Heu der vielen Preisvergleichs- und Produktbeschreibungsseiten und gaben mir manchen nützlichen Tipp. Glaubhafte Erfahrungen lebendiger Menschen lese ich 1000mal lieber als kühle Informationen ohne jeden persönlichen Bezug.
Und das Ergebnis gibt mir recht: Die beiden Artikel zu diesem Thema haben die Aufrufe des Webwriting-Magazins jeweils um ca. 20% gesteigert – es scheint andere also ebenso zu interessieren, wie es mich interessiert hat.
Nun ist „Netbook-Kauf“ ein durchaus massenkompatibles Thema. Doch auch, wenn es um ein Halsband für eine Perserkatze oder den richtigen Zeitpunkt, Tomaten vorzuziehen, gegangen wäre, gäbe es viele Leser, die Botschaften dazu gerne „empfangen“. Über Relevanz entscheidet der Empfänger (so auch kürzlich Peter Kruse im sehenswerten Video des Elektrischen Reporters: das ICH im JETZT). Was spricht also dagegen, zu senden, was immer man mag, und die Sinnhaftigkeit den Lesern zu überlassen?
Angemaßte Bedeutung?
Aus meiner Sicht rührt die Aggressivität, die manche angesichts des allgemeinen Publizierens vermeintlicher Nichtigkeiten verspüren, aus dem Verhaftetsein in der alten Medienwelt: Da gab es Redaktionen, die die Flut der Möglichkeiten filterten und mit ihrer Gatekeeper-Autorität nur dem aus ihrer Sicht „Wichtigen“ den knappen Medienplatz einräumten. Nur Inhalte mit Bedeutung FÜR DIE MASSEN hatten die Chance, gesendet und gedruckt zu werden. Heute aber ist der Platz nicht mehr knapp und jeder darf selbst entscheiden, was er senden möchte. Überlegungen zur Relevanz beziehen sich allenfalls auf den „Ort“ der Platzierung: schreibe ich nur einen Kommentar oder einen eigenen Artikel? Oder schicke ich nur einen Link mit Kurzbemerkung über Twitter in die Welt?
Die ÄRGERLICHEN empfinden das als Anmaßung: Wer bin ich schon, dass ich denke, es könnte „die Welt“ interessieren, was ich täglich so denke und meine, gut finde oder kritisiere? Ich denke aber gar nicht an „die Welt“, wenn ich etwas aussende, sondern erlebe das Senden als „bereit stellen“ für unbekannt viele oder wenige Interessenten. Ich schwimme im Fluss all der Botschaften, die ich mitbekomme und erlebe zusätzlich Eigenes durch mein Handeln und Reflektieren. Was mir davon PERSÖNLICH wichtig erscheint, reiche ich weiter – mal in Gestalt eines ausführlichen Artikels, mal nur als kurzen Link-Tipp.
Was nun die Empfänger ihrerseits damit anfangen, bekomme ich dank Web2.0 ja zumindest stellenweise mit. Und auch, was IHNEN wichtig ist – etwa durch die personalisierte Darstellung der von meinen „Twitter-Followern“ empfohlenen Inhalte auf Rivva, ebenso durch Kommentare im Blog und „Status-Kommentare“ auf Facebook.
Zuwenig Empfangende?
Die manchmal geäußerte Sorge, es gäbe mittlerweile zu viele Sender und zu wenige Empfänger, teile ich nicht. Zum einen nehmen diejenigen, die selber senden, deutlich mehr Inhalte auf als die bloß passiven Leser. Zum anderen sind nach wie vor in einer x-beliebigen Community immer nur 5 bis 10 Prozent der Teilnehmer selber aktiv – der große Rest liest, schaut zu und schweigt. Von den derzeit ca. 300 Digital-Diary-Besuchern pro Tag kommentieren hier z.B. fluktuierende 5 bis 25 Stammleser. Einige der Nicht-Kommentierer kenne ich persönlich, sie sind manchmal richtige „Inhalts-Giganten“, die aber leider leider – eine Temperamentsfrage! – ihre Gedanken nicht ins Web senden, sondern sich allenfalls im persönlichen Gespräch offenbaren.
Es soll und darf eben jeder, wie er mag. Und ich finde das GUT so, denn dem steht meine Freiheit gegenüber, zu bemerken, was mir bemerkenswert erscheint, und den Rest zu ignorieren.
Tja – wie eingangs gesagt ist das ein URALTES Web-Thema. Und vermutlich war es überflüssig, es wieder einmal aufzuwärmen. Mir hat es aber Spass gemacht – und niemand MUSS das ja jetzt lesen! :-)
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22 Kommentare zu „Web 2.0: Sind zu viele Sender?“.