Claudia am 12. Februar 2010 —

Transfer

Es ist kurz vor zehn. Ich bin spät aufgestanden und lese – wie immer – erstmal die neuesten Nachrichten. Es folgen Mails und Blog-Kommentare, die ich auch gleich beantworte. Manch‘ einer verführt mich, zu schauen, wer der Autor ist: ich klicke mich weiter auf fremde Blogs, scanne schnell ein paar Einträge, zappe dann wieder zu den „meist erwähnten“ Beiträgen, die Rivva versammelt: Westerwelle, Paid Content, German Privacy und die Hegemann-Debatte treiben „die Welt“ gerade um. Aha.

All das geht ungeheuer schnell, genauer gesagt: fast so schnell, wie ich denken kann. Und: ICH bin die Macht, die all das heran und wieder weg klickt, genauso dynamisch, wie ich es mir gerade zumuten will, nicht mehr, nicht weniger. Niemand pfuscht mir rein in meine virtuellen Bewegungen, die so herrlich leicht von statten gehen: noch ein Mausklick mehr kostet keine Kraft, geistige Ermüdung wird erst nach Stunden spürbar, wenn überhaupt.

Was für eine wunderbare Welt: Information at your fingertipps, gedankenschnelle Interaktionen, Leichtigkeit des Seins, Schöpfen aus unendlicher Fülle, ganz nach eigenem Belieben. Mein Übergang vom Konsumieren zum Produzieren ändert wenig an diesem Gefühl: ich bereichere die Vielfalt, wähle dabei aus unzähligen Möglichkeiten, gebe dem Text, dem Bild, der Webseite, dem Blogbeitrag Gestalt – für meine Auftraggeber, für mich, doch immer auch für „potenziell alle“.

Dann stockt der Fluss, ich bremse. Rufe mich zur Ordnung, zum Ausstieg bzw. zum Umstieg in die physische Welt. Muss mich losreißen aus der Welt der Leichtigkeit und eintreten in die Zone der Schwere. Muss mich einmummeln, um die warme Wohnung zu verlassen. Draußen ist strenger Winter, die Gehwege sind 10 cm hoch vereist, unregelmäßig, so dass jeder Schritt Konzentration erfordert. Hier folgen die Taten nicht den Gedanken, sondern die Wahrnehmung mit allen Sinnen steht an erster Stelle. Der Kopf muss frei von Überlegungen sein, wenn ich nicht stürzen will. Alle Kapazitäten fließen ins Gewahrsein dessen, was als „Info“ über die Sinne herein kommt. Blitzgeschwind muss ich KÖRPERLICH reagieren, balancieren, voran schreiten, ausweichen, drüber steigen. Und nein, es ist nicht leicht, mein Körper wiegt ja was – derzeit sogar ein paar Kilo mehr als noch im Sommer. Ich spüre die Schwere, die so ganz anders ist als bloß mal eine Hand über der Tastatur schweben zu lassen.

Die physische Welt kostet Kraft, reale Muskelkraft. Genau deshalb suche ich sie auch gerade auf: um mir die Kraft zu erhalten, die der altmodische Körper braucht, um gesund zu bleiben. Damit das nicht zuviel Zeit kostet, gehe ich zu Kieser, ein sehr spezielles Fitness-Center nur zwei Straßen weiter. Die haben das Kraft-Gewinnen konzentriert und optimiert: keine Laufbänder und Fahrräder, keine Hüpfkurse, keine Bar, keine Sauna, keine Musik. Nur eine Fabrikhalle, eine spartanische Umkleide, die Kraftmaschinen und ich. Früher hätte ich über diesen Purismus gelästern, heute weiß ich, wofür das gut ist. Minimaler Aufwand, maximaler Kraftzuwachs – was will man mehr? An zehn Maschinen vollführe ich jeweils zwölf mal eine einzige Bewegung, mehr ist nicht angesagt. Hinzu kommen bis zu vier Voreinstellungen pro Maschine. Da bin ich noch ein wenig langsam, denn ich fange erst an. Bald aber wird mich das Ganze nicht mehr als zweimal die Woche 40 Minuten kosten – und schon kann ich wieder zurück ans heimische Gerät!

Zurück dahin, wo alles so leicht ist, dass die Muskeln schwinden. Wo Arbeit wie Spiel ist und die Macht, etwas zu machen, schier unendlich – bis zum nächsten Transfer.

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Diskussion

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13 Kommentare zu „Transfer“.

  1. Das liest sich auch ganz „leicht“ – irgendwie ist das Thema „Schwere und Leichtsein“ direkt in die Melodie des Textes eingeflossen.
    Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen.

    Gruß
    Gerhard

  2. Das liest sich für mich eher…. gespalten. Eine solch scharfe Trennlinie liest sich heraus, wobei der „altmodische“ Körper durch Maschinentrainig (so wenig wie nötig) gerade mal so fit gehalten wird, damit man entkörperlicht leicht durch die nicht anfassbaren Bereiche wieder schweben kann.

    Ganzheitlich wirkt das nicht, eine rein subjektives persönliches und nicht über meinen Lebensbereich hinaus wertendes, Empfinden beim lesen Deines Textes.

  3. @Cräcker: ich schreib hier ja auch nicht, um einen „vorbildlichen“ Eindruck zu machen, sondern berichte aus meinem Erleben! :-)

  4. @Gerhard: danke!!!! Freut mich, dass du Sound & Rhythmus des Textes bemerkt hast. Darin „lebe“ ich weit mehr als im Kribbeln der Muskeln… :-)

  5. hihi, das habe ich auch nicht gemeint, Claudia. Ich schrieb es ja auch nicht als „persönliche Lebenskritik“, alleine aus zwei Gründen heraus schon nicht: einmal ist mein „lesen“ ja nur ein Spiegel meines Empfindens aus meiner Lebenswelt heraus und zweitens würde ich, wenn ich eh auf diese ungebührliche Kritik Idee käme, im Glasscherbenregen des Glashauses sitzen.

  6. Du „kieserst“ jetzt also auch? :-)

  7. ich beneide dich um die zwei straßen bis zum kiesern. bei mir sind es drei u-bahnen, das fällt mir im moment so schwer. :-(

  8. @Guido: du auch? :-)

    @engl: ja, das wär mir auch zuviel Anweg, verstehe ich gut! Die Nachbarschaft ist für mich ausschlaggebend gewesen.

    Man sollte glatt versuchen, in der konkreten Nachbarschaft eine Art „Fitness-Netz“ zu etablieren und sich zu Workouts treffen. Die Kraftübungen gehen ja auch anders und mit simplen Hilfsmitteln. Leider sind wir so eine Konsumgesellschaft, dass sowas kaum einer machen mag…

  9. Mit Sport und Fitness stand ich zeitlebens auf dem Kriegsfuß. Bis mein Fuß nach einem Bandscheibenvorfall im letzten Oktober gelähmt wurde. Nach OP und Krankenhaus dann 3 wöchige Reha und ein 12-wöchiges Nach-Reha-Programm – dies vor allem in der Mucki-Bude. Ich hätte mir nie vorstellen können, wie wohltuend, hilfreich und unerläßlich solch ein Programm zum Muskelaufbau und -erhalt sein kann. Nächste Woche endet das Pflichtprogramm und ich muß, wenn ich den Trainungserfolg erhalten will, mir selbst eine Möglichkeit suchen. Das kostet Überwindung, weiß doch jeder, wie schwierig es sein kann, nach oder vor 9 Stunden Arbeit noch irgendwohin zu fahren, wo Schweiß fließt, wo Kraft beansprucht wird. Ich bin gespannt, ob ich meinen sehr stabilen inneren Schweinehund werde überlisten können. Dir gelingt es anscheinend. Ich bin ein Computer- und Web-2.0-Junkie (gewesen), probte aber immer wieder den Aufstand und bemerkte gerade in den letzten Wochen, nach anfänglicher Irritation, daß es durchaus auch ohnedem geht. Das heißt, es gibt immer auch die Chance, etwas anders, völlig anders zu machen oder eben nur zu variieren. Es ist nie zu spät. Als du damals 1999/2000 dein Nichtrauchertagebuch führtest, las ich mit, mitleidend und selbst probierend. Seit September 2000 rauche ich nicht mehr. Warum sollte es nicht gelingen, die Renitenz gegen Sport in den Griff zu kriegen.

  10. Sehr schön zu lesen, an einem Sonntag Morgen, so im Bett. Und nein, ich habe kein schlechtes Gewissen ;)

  11. Ach, ihr Großstadt-Glücklichen!

    Auf das Glamour-Klitzer-Fitness-Studio in meiner Kleinstadt kann ich gut verzichten.

  12. Heissa Sammelmappe,
    Glamour-Klitzer ist nicht leicht zu verdauen. Aber das gehört zum Training dazu. Du must mentale Stärke entwickeln und auch unter widrigsten Umständen trainieren. Nimm ein Laufband mit Blick auf eine graue Wand und dann zwei Stunden durchdonner. Das macht stark. Aber Kieser ist auch eine extreme Herausforderung. Dort wird versucht der Spass an der Bewegung, an der Konzentration in krankengymnastische Übungen aufzulösen. Dass es auch ja keinen Spass macht und jeder nur brav zahl aber das Studio nicht länger als unbedingt nötig belegt. Ich komm damit nicht zurecht. Ich will auch mal verrückt sein und auch mal extrem. Mit gestutzen Flügeln kann ich nicht abgheben.
    einen schöenn Fasching
    wünscht euch alle
    Ottmar

  13. Heissa Ottmar,

    “Blick auf eine graue Wand und dann zwei Stunden durchdonner” – Bolle hat sich köstlich amüsiert :) Kamikaze-Zen vom Feinsten. Wenn man als Hartz4-Empfänger schon auf den allradbetriebenen Panzer verzichten muß (laut Karlsruhe nicht verfassungswidrig), wäre dann nicht eine mentale Kompensation vonnöten, um auf dieser schmalen Plattform Westerwelles „Leistung muß sich wieder lohnen“ aus voller, stolzgeschwellter Brust mitzusingen, hoch auf dem gelben Mental-Mobil?! Dann könnten auch all diese an der Armutsgrenze hochprofessionell Krisenmanagement Betreibenden endlich zum Neoliberalismus konvertieren und mit der Talfahrt unseres Kamikaze-Schreihalses und seiner Partei wäre es vorbei. Tataaa, tataaa!

    Gruß Jochen