Was mich an politischen Debatten oft so anödet, ist die Tatsache, dass zur Sache schnell alles gesagt ist:
Westerwelle: wer arbeitet, muss mehr verdienen als einer, der nicht arbeitet. Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.
Andere: Ja klar, es muss ein Mindestlohn her! Und spätrömische Dekadenz sehen wir eher bei Westerwelles Klientel, bei den Steuerhinterziehern, den Bankern, den Profiteuren der Finanzkrise…
Westerwelle: Arbeitnehmer werden zu Deppen der Nation! Was hierzulande um sich greift, ist geistiger Sozialismus!
Andere: Das Problem sind nicht die paar Hansel, die nicht arbeiten wollen, sondern das Fehlen von fünf Millionen Jobs, von denen man auch leben kann!
Und so weiter und so fort. Wenig variiert wird das vorgegebene Thema seit Tagen quer durch alle Medien geschleift und in den Talksshows widergekäut. Die Diskussion unterscheidet sich nicht von zig anderen, die rund um HartzIV in den letzten Jahren geführt wurden. Die immerselben Argumente treffen aufeinander, doch entsteht daraus kein neuer Plan, kein anderes Herangehen. Es ist ganz offensichtlich ein Westerwellescher Profilierungsversuch in Reaktion auf die drastisch gesunkene Zustimmung zur Politik der FDP: Nur noch acht Prozent würden sie wählen, wäre demnächst wieder Bundestagswahl. (Update: jetzt nur noch sieben!) Und der Mann glaubt offenbar wirklich, dem sei so, weil die FDP nicht drastisch genug „liberalisiert“, nicht schnell genug Steuern senkt und den Sozialstaat zusammen streicht.
Also sitzt nun wieder der typische Friseur aus den neuen Bundesländern in „Hart aber fair“ (RBB) und berichtet, dass er seine Angestellten entlassen müsste, wäre da ein Mindestlohn. Denn die Leute hätten das Geld halt nicht, um die dann höheren Preise zu bezahlen. Hätten sie doch, kontert DIE LINKE, denn sie alle hätten ja dann zumindest den Mindestlohn von 10 Euro! Reicht doch nicht, meint der Moderator und rechnet vor, dass die vierköpfige Familie auch dann noch aufstocken müsste – also nix mit Urlaub und Frisör.
Spalten und entsolidarisieren
Jeder neue Versuch, HartzIV-Empfänger zu diskriminieren und zu drangsalieren, ist ein wiederholter Lackmus-Test auf die verbliebene gesellschaftliche Solidarität: Irgendwann, so hoffen Westerwelle & Co., wird es endlich soweit kommen, dass die Mehrheit einverstanden ist, die Stütze-Bezieher noch weiter auszugrenzen, damit man die Besserverdiener steuerlich „entlasten“ kann. Da aber grade erst die Finanzkrise Unsummen für Rettungsaktivitäten verschlungen hat, haben viele Angst, selbst demnächst bei HartzIV zu landen und sind wenig geneigt, die Bedingungen der ALG2-Empfänger noch weiter zu verschlechtern.
Dieser Restsolidarität aus Angst vor dem eigenen Abstieg tritt nun die Financial Times Deutschland (FTD) beherzt entgegen: „Mittelschicht von Hartz IV kaum betroffen“ heißt es da – und weiter:
„Hartz IV betrifft die Mittelschicht fast überhaupt nicht: Gerade einmal 0,3 Prozent der Empfänger von Arbeitslosengeld II verdienten bei ihrem letzten Arbeitgeber mehr als 3000 Euro brutto im Monat. Und gar nur jeder 1000. kam auf wenigstens 3500 Euro, wie eine noch unveröffentlichte Berechnung des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) zeigt. Der Durchschnittslohn von Vollzeitbeschäftigten in Deutschland liegt bei 3100 Euro.“
Aha, wer unter 3000 brutto verdient, ist also Unterschicht! Da würden mich glatt mal die absoluten Zahlen interessieren. (Die IZA, deren Vor-Finanzkrisen-Zahlen von 2007 hier präsentiert werden, ist übrigens ein privates Wirtschaftforschungsinstitut zur „Zukunft der Arbeit“. Präsident: Klaus Zumwinkel).
Und damit auch klar ist, was man nun denken soll, schreibt die FTD weiter:
„Die IZA-Zahlen entziehen einer zentralen Argumentation von Hartz-IV-Gegnern die Grundlage. Kritikern zufolge erhöht die Arbeitsmarktreform das Risiko des sozialen Abstiegs drastisch, weil auch Gutverdiener ein Jahr nach einem Jobverlust nur noch Arbeitslosengeld II erhalten – der Staat also bloß das Existenzminimum sichert. Tatsächlich rutscht aber kaum ein früherer Durchschnitts- oder gar Besserverdiener in Hartz IV ab. „
Danke FTD! Da muss „man“ sich ja keine Sorgen mehr machen und kann frohen Mutes auf die Westerwelle aufspringen: Weg mit der bequemen sozialen Hängematte – und falls die dann alle zwecks Broterwerb kriminell werden, lasst uns halt Gefängnisse bauen! Viele neue Bauvorhaben in den Kommunen sind doch genau das, was jetzt gebraucht wird.
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Mehr dazu:
Lässt die FDP den Liberalismus zur Ideologie verkommen?
Hartz IV – „Das Problem ist nicht die Arbeitsmoral“;
Hartz IV-Diskussion: Die FDP, der Esel und die „Deppen der Nation“
Dekadenz in Potenz (interessante Statistiken!)
Arroganz – Westerwelles Tarnanzug
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20 Kommentare zu „Wenn alles gesagt ist: die Westerwelle-Debatte rund um Hartz IV“.