Das Kommentargespräch zum Artikel Privatheit ade: verschwindet die Anonymität des Stadtlebens? hat alles in den Schatten gestellt, was ich dazu erwartet hätte! Es entspann sich eine intensive Auseinandersetzung über die Vor- und Nachteile des Lebens auf dem Land bzw. in der Stadt – ein Thema, mit dem ich mich erlebend und experimentierend lange schon befasse. Nach zwei recht ernst gemeinten Versuchen der „Auswanderung“ (einmal „Pendeln in die Toskana“, später zwei Jahre Umzug in ein kleines Dorf in Mecklenburg) hab‘ ich meinen Frieden in der Stadt gefunden. Allerdings erst so richtig, seit ich einen Kleingarten in nicht allzu weiter Ferne betreibe: 20 Minuten mit dem Fahrrad, wenn ich mich beeile, auch schneller – da ist das „Cardio-Training“ gleich inbegriffen – gut so!
Und das „Leben in den Netzen“?
Im Gespräch Stadt- versus Landleben spielte das Netz kaum eine Rolle. Zwar schrieb Iris dazu:
„Ein wesentlicher Vorteil des Internets ist ja gerade, dass ich keinen radikalen Ortswechsel mehr vornehmen muss, um meine Weltsicht zu erweitern. Ich bin nicht mehr auf die Auswahl an Gesprächspartnern in meiner unmittelbaren Umgebung angewiesen. Und vielen anderen geht’s doch mittlerweile genauso. Sie werden ebenfalls durch ihre Teilnahme ‘am großen Gespräch’ mit Ansichten aus vielen Regionen konfrontiert. So kann ich z.B. hier mit Claudia diskutieren, ohne nach Berlin fahren zu müssen. Ist das nicht toll? ;o)“
Ist aber damit die Wirkung der Vernetzung auf die Art, wie wir wohnen, bzw. wo wir uns „zuhause“ fühlen, schon erschöpfend beschrieben? Immerhin sagt das Statement aus, dass es für Landbewohner leichter geworden ist, auf dem Land zu bleiben, denn zumindest geistig steht die große weite Netzwelt für vielerlei Aktivitäten offen. Und wie ist es andersrum? Bringt das Netz auch den Stadtmenschen einen leichteren Zugang zum Land?
Würde ich meine Brötchen nicht mit Arbeiten „im Internet“ verdienen, wäre ich nicht nach Mecklenburg gezogen – ganz sicher nicht! Und dort hat es mich nicht groß gestört, von mecklenburger Rentnern umgeben zu sein, die in ihren kleinen Häuschen den Lebensabend zubringen, dabei recht abweisend und wenig kommunikativ alls Fremde und Neue beeäugend. Dann gab es noch die „neuen Siedler“: billige Einfamilienhäuser mit wenig freiem Platz drumrum, bewohnt von frisch verschuldeten Pendler-Familien, die ihre Kinder in einer natürlicheren Umwelt aufwachsen lassen wollen. Was sich aber als sehr mühsam darstellte, denn außer dem Schulbus gab es keinerlei öffentliche Verkehrsmittel – vielleicht zweimal am Tag ein Bus, das erinnere ich nicht so genau. Man muss die Kids also überall hinfahren, wenn sie außer-schulische Aktivitäten unternehmen, was ja heute nicht selten ist. Anders als ich geglaubt hatte, konnten diese Kinder mit ihrer ländlichen Umgebung wenig anfangen, ja, sie verließen kaum die Häuser und Wohnungen! Dem Nachbarsohn brachte ich das Webwerken bei – davon war er weit begeisterter als von allem, was die Natur rundum so bot.
Im Artikel zur vielleicht schwindenden Anonymität der Stadt sah ich die Folgen vornehmlich negativ: Wie würde es sein, ständig von allen möglichen Fremden, die ich bisher ignorieren (Iris: Stadt-neurotisch durch sie hindurch sehen) kann, womöglich „erkannt“, gar angesprochen zu werden? Droht eine „Verdörflichung“ der Stadt – bzw. ist das vielleicht gar nicht schlecht?
Da sitze ich auf der Bank in der Sonne, goggle mit dem Smarthandy ein wenig die Umgebung – mit vielleicht irgendwann frei geschalteter Gesichtserkennung, oder mittels der Daten, die die Leute freiweillig über ihre in die Klamotten integrierten RFID-Chips in die Welt senden. Eine junge Mutter nicht weit von mir beaufsichtigt ihre Kinder, die da im Sand spielen – aha, sie sucht gerade einen gebrauchten Fernsehen oder gar eine „Oma on Demand“. Jetzt kann ich mir überlegen, ob ich nicht eines ihrer Bedürfnisse befriedigen kann und will – das wär doch was, oder?
Und all die Zusammenkünfte Fremder zu diversen Events: oft fühlen Einzelnde sich da unwohl, weil es nicht jedem leicht fällt, mal eben so in einen Smalltalk zu kommen. In meiner hier ausgesponnenen voll vernetzten Zukunft würde ein kurzer Scan der Anwesenden jede Menge Themen ergeben, über die sich sinnvoll Kontakt aufnehmen ließe.
Wo ist zu hause?
Und das Land? Was ist es, das uns ein Gefühl des „zuhause seins“ vermittelt, auch wenn wir nicht am konkreten Ort geboren sind? Sind es nicht unsere sozialen Netze, die auch unabhängig vom Ort Bestand haben? Etwa so, wie früher und heute noch spezialisierte Wissenschaftler mit Kollegen in aller Welt verbunden sind: egal, wo sie wohnen, in ihrer Profession und den entsprechenden sozialen Bezügen sind sie beheimatet, ein Ortswechsel ist nur begrenzt relevant.
Die geistige „Heimat per Netz“ könnte zu einer verstärkten Wieder-Besiedlung ländlicher Regionen führen, die in den letzten Jahrzehnten viele Einwohner an die Städte verloren haben.
Der Wandel der Städte im Bereich Wirtschaft und Konsum ist schon derzeit weit fortgeschritten: Wenn man fast alles übers Internet kaufen kann, braucht es immer weniger Fachgeschäfte vor Ort. Die Produktion ist lange schon weitgehend ausgewandert und globalisiert so vor sich hin. Dafür steigt die Nachfrage nach Lebensmitteln aus der Region: immer mehr Menschen wollen hier „global denken und lokal handeln“, aber auch mehr Genuss und Gesundheit einkaufen und den industriellen Massenprodukten etwas entgegen setzen. Würde man verstärkt „in der Region“ wohnen, wäre das einfacher.
Gut 15 Jahre Internet haben das Leben schon sehr verändert – auch für die, die nicht selbst aktive Nutzer sind. Noch weit großformatigere Veränderungen könnten uns bevor stehen, bzw. sind virtuell, also „der Möglichkeit und Kraft nach“ schon vorhanden. Susanne schrieb:
„Stadt scheint mir ein lokales, vorübergehendes Phänomen zu sein. Weil Stadt nur bleibt, wenn ihre Physik gesichert ist. Ohne Strom, ohne Markt, ohne Technik wird sie schnell wieder Land. Land aber kann warten. Stadt eben nicht. „
Strom, Markt und Technik gestalten auch heute schon das Land, wie wir es kennen. Ich kann mir aber vorstellen, dass sich Stadt und Land mit Hilfe der Vernetzung in Zukunft mehr durchdringen: Mehr Dörflichkeit in der Stadt, mehr Anschluss an die Gegenwart auf dem Land.
Und ich freu mich über weitere Resonanzen zum Thema!
Diesem Blog per E-Mail folgen…
Diskussion
Kommentare abonnieren (RSS)
26 Kommentare zu „Stadt, Land, Netz? Verändert das Internet unser Wohnen?“.