Heute kommt mich ein lieber Freund besuchen: ganz real wird er hier in den dritten Stock steigen, mit mir auf dem Sofa sitzen, reden, Kaffe trinken. Er kommt nicht zufällig vorbei, sondern reist nach Berlin, um mich zu treffen. Ein „Netzkontakt“, aus dem sich eine echte Freundschaft entwickelte, seit wir uns 2005 „irgendwo im Internet“ in einer der vielen Plauderrunden trafen.
Damals hat er einfach angefangen, mir privat zu mailen, was mich zunächst wunderte: Was will der von mir? Sein Interesse war nicht etwa erotisch, auch ist er kein Schreibender, dem es schon mal darum gehen kann, neue Leser auf seine Seiten zu ziehen. Ja, nachdem ich bereit war, mich aufs mailen mit ihm einzulassen, stellte sich heraus, dass er nicht mal Lust hatte, wesentliche Themen per Text zu verhandeln – und das mir!
Zum Medienbruch verführt
Er mutete mir zu, zu TELEFONIEREN!!! Was für eine verrückte Idee: hab‘ ich doch Telefonate in meinem Leben auf ein absolutes Minimum beschränkt. Hilferufe wenn’s brennt, Absagen von Terminen – meinetwegen auch die heute schier unvermeidlichen Stimmfühlungslaute („bin grade angekommen und in 10 Minuten da), die man bei der Annäherung an einen Treffpunkt per Handy austauscht. Aber plaudern? Ernsthafte Gespräche? Nö, die führ‘ ich lieber von Angesicht zu Angesicht, oder – heute seltener – in Gestalt intensiver Mail-Dialoge.
Und doch: seine Hartnäckigkeit machte mich neugierig, was das wohl für ein Mensch ist, der soviel Engagement in einen neuen Kontakt „investiert“. Der sich nicht abschrecken lässt durch meine Telefonier-Abneigung, sondern höchst charmant einfach nochmal probiert, mich umzustimmen. Also gut, wenn’s denn sein muss…
Erstaunlicherweise gefiel mir unser telefonisches Plaudern. Es stelle sich heraus, dass er ein ebenso Schnell- und Vielsprecher ist, wie ich es bin (wenn ich mal angefangen habe…). Und dass wir mehr als das gemeinsam haben, doch auch große Unterschiede existieren, die es reizvoll machen, das Gegenüber zu erkunden.
Wir telefonierten nun ab und zu, und irgendwann trafen wir uns bei Gelegenheit eines Besuchs in meiner früheren Heimatstadt, wohin er nicht allzu lange fahren muss. Es blieb nicht das einzige Treffen, so einmal im Jahr klappt es seitdem irgendwie, dass wir einen Tag zusammen verbringen. Ab und zu telefonieren wir auch lange. Er interessiert sich für die Art, wie ich Selbständigkeit lebe und arbeite – und zu meinem Erstaunen half er mir ungefragt mit einem Privatkredit weiter, als ich meine ganz persönliche Finanzkrise erlebte. Das half mir nicht nur über eine temporäre Notlage hinweg, sondern sein damit verbundenes „Coaching“ versetzte mich in die Lage, einen anderen Umgang mit Finanzen zu pflegen und nicht mehr nur von der Hand in den Mund zu leben – klasse!
377 Freunde?
Warum erzähle ich das? Weil ich heute morgen in meiner stillen Lese-Stunde wieder mal auf etlichen Blogs die Klage über oberflächliche, bedeutungslose Netzkontakte antraf. Zum Beispiel im Artikel „Der Unterschied zwischen real und virtuell liegt in der Tiefe“ von Nicole Rensmann. „Ich hatte viele Bekannte, als ich noch in Foren unterwegs und Administrator war. Als ich diese Foren verließ, verlor ich alle Bekanntschaften auf einen Schlag. „ heißt es da. Und: „Ich habe 377 Freunde auf Facebook und täglich kommen neue dazu…. ‚377 Freunde‘. Das ist doch Blödsinn. Ich weiß, dass ich nur auf einen Freund von diesen 377 Freunden zählen könnte, wenn hier die Bude brennt. Und diesen Kontakt habe ich seit mehr als zwanzig Jahren im Real Life.“
Klar, wenn wirklich die Bude brennt, braucht es die physische Feuerwehr und Freunde, die helfen, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Doch zwei meiner nächsten Freunde im „Nahraum“, die dafür in Betracht kämen, hab‘ ich übers Netz kennen gelernt. Ich halte die Unterscheidung zwischen „real“ und „virtuell“ mittlerweile für unzureichend, oft ist sie sogar einfach falsch. Tiefe und Verbindlichkeit, wahres Interesse am Anderen – das bekommen wir nicht mit ein paar Mausklicks geschenkt, das müssen wir aktiv wollen und anstreben.
Um sich zu befreunden, muss man die „Com“ verlassen!
Lange schon halte ich es so: wenn mir eine Person virtuell näher kommt, sich Dialoge entwickeln und ein persönliches Interesse spürbar ist, dann sehe ich zu, auch außerhalb des jeweiligen Forums den Kommunikationsdraht aufzunehmen. Ich tausche reale Daten aus (Alter, Wohnort, Familienstand, Beruf) und beginne, per E-Mail zu kommunizieren. So kommt mir der Andere nicht abhanden, sollte die Com verschwinden oder er dort mal sein Profil löschen. Und ich bin durch die gute Erfahrung auch offener fürs Telefonieren – allerdings nicht mit Leuten, von denen ich nur einen Nicknamen weiß.
Als Behinderung und Abweisung erlebe ich es, wenn auf interessanten, nachdenklichen Blogs, geschrieben von Brüdern und Schwestern im Geiste, keine E-Mail und kein Kontaktformular steht. Denn manchmal hab‘ ich Lust, dem Blogger persönlich zu schreiben, z.B. wenn ich etwas sagen will, was sich auf sein ganzes Blog bezieht und über den konkreten Beitrag hinaus geht. In den ersten Netzjahren war es noch allgemein üblich, auf seiner Homepage eine Mailadresse zu haben: klar, war es doch der einzige Weg, sich auszutauschen und einander Kommentare zu schicken. Heute halten sich viele sehr bedeckt, was ich bedauerlich finde. Und ganz schlimm diejenigen, die auf Profile bei sozialen Netzen verweisen, auf denen dann ebenfalls keine Kontaktmöglichkeit auffindbar ist. Und irgendwo registieren, nur damit ich jemanden ansprechen kann: so weit reicht mein anfängliches Interesse dann meist doch nicht!
Kurzum: Wer für neue Freundschaften offen ist, muss etwas dafür tun – sie entstehen jenseits der Jugendjahre nicht mehr von selbst, auch nicht im sogenannten „realen Leben“.
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13 Kommentare zu „Freundschaft in den Zeiten sozialer Medien“.