Claudia am 04. Mai 2010 —

Wir sind das Netz! Netzkritik ist Selbstkritik

Hat schon mal jemand das rasant gewachsene Straßennetz für die Qualität der Beziehungen verantwortlich gemacht, die Menschen heute „in die Ferne“ haben bzw. haben könnten? Was ist von den vielen Flugverbindungen zu halten, die dem bloßen Konsum touristischer Sehenswürdigkeiten dienen? Und was bringt ein noch so gut gepflegtes Schienennetz, wenn es uns einander nicht wirklich näher bringt??

Komische Sicht? Nö, ganz normal, zumindest, wenn über das Internet, bzw. das „Social Web“ geredet wird. Dass ich mich zeigen und verlinken kann, dass ich „Leuten folgen“ und mich mit XYZ „vernetzen“ kann, die dann je nach Plattform „Freunde“, „Kontakte“, „Fans“ oder wie auch immer heißen – was ist das denn MEHR als eine technische Möglichkeit?

Warum kommen so viele, durchaus intelligente Menschen dazu, fortwährend die technischen Möglichkeiten und Plattformen für die Qualität der Ergebnisse zu kritisieren? Bejammern wir die Tastaturen und Textprogramme wegen der vielen schlechten Texte? Wer ist es denn, der Beziehungen gestaltet, ihnen Oberflächlichkeit oder Tiefe, Flüchtigkeit oder Dauer verleiht?

Dann investier doch mal!

Umair Haque schreibt auf Carta über die „Social Media Blase“, der er eine „Beziehungsinflation“ anlastet:

„Zahlenmäßig haben wir heute zwar deutlich mehr Kontakte als früher. Doch wertvoll sind in Wahrheit – wenn überhaupt – nur sehr wenige von ihnen. Ähnlich wie eine Währungsinflation unser Geld entwertet, vermindert die soziale Inflation den Wert unserer Beziehungen. Schon das Wort „Beziehung“ wird dabei verwässert. Es gab Zeiten, da stand es für jemanden, auf den man bauen konnte. Heute sind es Leute, mit denen wir Informationsbits über das Netz austauschen können.

Dünne Beziehungen schaffen die Illusion echter Beziehungen. Letztere bestehen aus Strukturen gegenseitiger Investitionen. Ich investiere in dich, du investierst in mich. Eltern, Kinder, Ehepartner – sie alle verlangen mehrstellige Investitionen von Zeit, Geld, Wissen und Aufmerksamkeit. Die „Beziehungen“ im Innersten der sozialen Blase sind nicht echt, da sie gerade nicht von gegenseitigen Investitionen geprägt sind. Sie sind höchstens gekennzeichnet durch einen gelegentlichen Austausch von Informations- und Aufmerksamkeitshäppchen.“

Ich zweifle sehr daran, dass sich die „User“ tatsächlich der Illusion hingeben, all die Follower und Friends seien echte Freunde, auf die man bauen kann. Ein paar Verlinkungen und die Leichtigkeit, sie zu installieren, machen aus einem Menschen noch keinen Deppen! Und was bitte hindert irgend jemanden daran, in eine Verbindung „zu investieren“? Das geht auch mit Netzkontakten, man muss es nur wollen! Es geht sogar schneller, leichter, unaufwändiger in den Mitteln und Methoden, doch Zeit, Aufmerksamkeit und Engagement wird es immer brauchen, um sich mit jemandem „wirklich“ zu befreunden.

Dass viele meinen, das nicht mehr zu brauchen, da es ja jederzeit möglich ist, Spontankontakte auf- und wieder abzubauen, bestreite ich nicht: Ein interessantes Phänomen, über das sich viel sagen bzw. schreiben ließe – ABER im Kern kein „Netzthema“, sondern eine psychosoziale Entwicklung.

Warum so deprimiert?

Auch bei Thinkabout läuft gerade ein Gespräch über Beziehungen im Internet, das mich heut‘ Nacht zum ausufernden Kommentieren verführt hat. Im netztypischen „Kommen und Gehen“ vermisst er die Verbindlichkeit (etwas, das Menschen nicht nur ersehnen, sondern auch als beklemmend empfinden – nicht erst, seit es das Netz gibt!). Zur selben Zeit stolperte ich über Bazon Brooks Abgesang „Das Netz ist die Hölle der neuen Welt“, in dem er die Unmöglichkeit beschreibt, im Netz Vertrauen zu gewinnen und gemeinsam Wissenschaft zu betreiben. Böses Netz aber auch, das aus liebevollen und teilungsbereiten Forschern konkurrierende Ideenklauer, Abschreiber und egoistische Hyänen macht!

Ich könnte fortfahren, doch spüre ich gerade einen inneren Widerstand, die in kurzen Abständen wiederkehrende Welle deprimierten Web2.0-Bashings durch weiteren Widerspruch mit aufzuschaukeln. Warum schaffen es nur die Amerikaner so gut, jede Menge innovativer Projekte hervor zu bringen, anstatt in Kulturkritik zu versacken? Thinkabout sehnt sich nach Webseiten, „die Lust machen auf Leben“ – als sei das Leben etwas außerhalb des Netzes, wo nur Untote ihre gespensterhafte Existenz pflegen!

Genug, genug, genug! Und wem es nicht genug ist, findet hier mehr dazu:

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Diskussion

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12 Kommentare zu „Wir sind das Netz! Netzkritik ist Selbstkritik“.

  1. So, jetzt setze ich zum dritten mal an. Ich könnte ja warten, bis sich all meine Gedanken etwas gesetzt haben, aber hey, man muß sich ja nicht ganz verleugnen. ;-)

    Es gibt da verschiedenste Nörglerebene, die immer wieder auf einander prallen. Allen gleich ist das zernörgeln der jeweils als „andere Seite“ angesehenen Sicht und Handlungsweise. Einmal innerhalb des Netzes, das sind dann Systemlager meist. Und dann „von ausserhalb“ des Netzes zu den Leuten, die sich „innerhalb des Netzes“ bewegen.

    Das geht fleissig in beide Richtungen hin und her. Jeder braucht sein Draufhaufeld. Früher war die Halbwertszeit eines Netzinternen Feindes wenigstens noch „microsoft-lang“, heute weiss ich nicht mehr. Ist google noch böse, oder doch schon Apple? Ist Schirmacher der neue Gravenreuth? der kam ja am Schluß noch fast zu Ehren als mißverstandener Retter. Darf ich jetzt flash doch gut finden oder muß ich noch eine Konferenz mit Apple abwarten?

    Und die Welt ausserhalb des Netzes will auch gerne sich abgrenzend draufhauen. Dafür hats nun Facebook und seine Knopfbezeichnung „Freund“ – wer hätte gedacht, das eine einzige etwas unglückliche Button-Bezeichnung so einen Ankerpunkt des pauschalem abreagieren sein kann.

    Und dann sind manche einfach innerhalb des Netzes nur enttäuscht, das es hier doch nicht anders zugeht wie ausserhalb des Netzes. In diese Richtung sehe ich Thinkabouts Gedankengänge.

    Auch wenn ich es inflationär in letzter Zeit gebrauche und es natürlich auch nur die Tiefe eines Glückkeks-Textes hat, aber da denke ich mir: nit quake, make. Sollen sie doch alle sonst wen sich zum draufhauen suchen. Ich weiß, was ich im Netz habe, ich weiß was nicht und ich weiß, wo ich das sonst bekomme.

    Nicht wegschreiben lassen, Claudia.

  2. Herzlichen Dank, lieber Cräcker, dass du so aufwändig in unsere schwache Netzbeziehung „investierst“!!! :-)

  3. Schön zu wissen, dass ich mit meiner Meinung nicht allein im Netz (und auch außerhalb) bin!

    In Gesprächen über die neue Webwelt komme ich immer wieder auf den Begriff Medienkompetenz. Der ist zwar etwas angestaubt und vom Schulträger vorbelastet, doch es gibt keinen besseren Ausdruck dafür, dass das hindernislose Bewegen im Netz kein Selbstläufer ist. Diese Kompetenz kann nur erlernt werden, wenn man sich im Netz bewegt. Die besondere Schwierigkeit liegt aber darin, dass die Regeln oder Netiquette noch längst nicht ausformuliert sind oder sich immer wieder wandeln.

  4. @Claudia

    Natürlich gibt es am Netz in den von Dir genannten Punkten nichts zu kritisieren. Wer einem Faustkeil oder einem Messer keine nutzbringende Funktion abgewinnen kann, der ist dafür sich selbst gegenüber genauso verantwortlich, wie jemand, dessen Wünsche nach Beziehung, Tiefe oder Freundschaft das Internet nicht erfüllt. ;) So weit so klar.

    Was mir nicht klar ist: Wieso „investiert“ Cräcker in eine Netzbeziehung, wenn er seine Gedanken, die ihm inspiriert durch Deine Worte kamen, versucht in Worte zu fassen und diese dann unter Deine Worte schreibt? Es macht Freude, sich durch Worte zu Gedanken anregen zu lassen und diese dann in Worte zu gießen, garkeine Frage. Ich mache das oft und gerne, gerade auch hier aber kenne ich deshalb jemanden oder pflege ich gar eine Beziehung damit?

  5. Hallo Claudia, ich habe mich durch deinen und den „Think about“ Artikel gelesen. Da ich erst seit Dez. 09 überhaupt in der Blogwelt zu Hause bin und generationsbedingt ein wenig andere, zusätzliche Probleme / Interessen habe, versuchte ich ganz allmählich, meine Erfahrungen zu machen. – Ich möchte dieses Medium nicht mehr missen – es bringt mir verschiedenes, was ich real vermisse. – Ich habe mindestens 12 gut bekannten Leuten meine Adresse gegeben – von nicht einem einzigen habe ich ein Echo bekommen, geschweige denn, ein positives. Zum Verarbeiten dieser „Enttäuschung“ habe ich lange gebraucht, ganz geschafft ist sie noch nicht – doch immer wieder auftauchende Leserinnen, eine kleine Clara-Gemeinde, lässt mich vermuten, dass es nicht so schlecht sein kann, was ich da von mir gebe. – Die 4 Leute, die ich real erlebt habe, waren mindestens eben so nett wie die aus dem echten Leben.
    Einen lieben Gruß lässt dir Clara da

  6. @Uwe: das war eine SCHERZHAFTE Bemerkung, bezogen auf den von mir kritisierten CARTA-Autor, der das „Investieren in Beziehungen“ (von Zeit, Geld, Wissen und Aufmerksamkeit) zum Unterscheidungsmerkmal zwischen starken und schwachen bzw. echten/unechten Beziehungen macht – wobei letztere für das Web2.0 typisch seien.

    Craecker hat auch schon im WWMAG und heut früh bei Thinkabout auf meine Texte reagiert und das sogar eingeleitet mit den (ebenfalls scherzhaften) Worten: „Nein nein Claudia, ich stalke nicht…“ Die Bemerkung fiel also in einem größeren Kontext.

    Klar steht für uns beide die Motivation, die du beschreibst, mit Abstand im Vordergrund. „Beziehungspflege“ ist da ein beiläufiges Nebenprodukt, ein „Kollateralnutzen“ sozusagen. :-)

    Für mich gewinnt eine Person, der ich im Web begegne, mit jedem Kontakt und jeder Äußerung mehr Kontur – und indem wir aufeinander reagieren, miteinander sprechen, scherzen, uns immer wieder wahrnehmen, festigen wir natürlich eine Beziehung. Die ist zwar schwach/locker und weitgehend unbelastet von Erwartungen, allerdings schon nicht mehr ganz wie bei einem Fremden: ich erwarte von Craecker schon, dass er mich nicht an der nächsten Web-Ecke niedertrollt, sondern sich zivilisiert äußert, wenn es ein Problem mit mir gibt. Und bei etlichen Themen meine ich auch schon zu wissen, was er dazu schreiben würde…

  7. @Jan: Das Problem mit der noch nicht ausformulierten und erst recht nicht etablierten Netikette ist ein wichtiger Aspekt des Beziehungsthemas! Wenn noch nicht klar ist, was „man tut“ und was nicht – und WIE man es tut, wenn man es tut, dann fehlen wichtige soziale Parameter, mit denen wir einander beurteilen / erkennen können! Beispiel: Die eine unterzeichnet eine Mail ganz freundlich mit LG (Liebe Grüße), die andere ist beleidigt, weil sie meint, sie sei nicht mal die Zeit wert, die es kostet, die beiden Worte auszuschreiben. Usw. usf. quer durch alle neuen Aktionsfelder…

    @Clara: Wow, da freu ich mich aber, dass DU hergefunden hast!!! Ich hab nämlich schon nach dir/deinem Blog gesucht, das ich kürzlich entdeckte, mir aber blöderweise nicht gebookmarkt hatte. Die „bloggende Oma aus Berlin“ (die auch einen Garten hat wie ich) war mir sofort als interessante Gestalt aufgefallen – und jetzt staune: ich hab gedacht, du seiest lange schon im Web bzw. in der Blogwelt aktiv! Du wirkst in deinem Auftreten so locker, als wärest du seit Jahren Teil der Blogosphäre – und nun lese ich, du bist recht neu!!

    Mach dir nichts draus, wenn deine Altersgenossinnen dein Tun eher skeptisch beäugen: alte Freunde und Bekannte sehen es oft nicht gern, wenn jemand neue Wege geht, die sie selbst sich nicht zu beschreiten trauen, bzw. gegen die sie Vorurteile hegen. Ich finde es toll, dass auch Ältere zunehmend im Web anzutreffen sind. Und da du in Berlin lebst, bist du ja sogar „Real-Life-Nachbar“… :-)

  8. Hallo Uwe, ich setze mal unter Claudias Antwort wieder ein, diesmal kürzer formuliertes: genau Claudia.

    Das hebt dann auch etwas die Beziehung, die wir „hier“ pflegen. (Ab und an kommt sogar mal ein „finde ich nicht so“ von mir, aber im großem und ganzen bleibe ich meistens doch eher da hängen, wo ich Gedanken von mir wieder finden kann…)

  9. Bei den ganzen Diskussionen zu diesem Themenkomplex geht ein, meiner Meinung nach, wichtiger Aspekt weitgehend unter.

    Ich habe seit meinen Anfangszeiten im Netz immer wieder Menschen „getroffen“, mit denen ich mich in Foren, Chats, Weblogs und jetzt eben auch in Social-Networks über Themen und Interessen austauschen kann, für die ich vor Ort keine Ansprechpartner finde, weil sich in meinem direkten Umfeld eben keiner für eben diese Themen interessiert.

  10. @Ralph: weil eben lieber bemeckert wird, was fehlt, als zu rühmen, was toll ist. Ich finds auch ganz in Ordnung, dass „der ganze Mensch“ bei vielen Themendiskussionen draußen bleibt – schließlich bin ich nicht ständig auf Suche nach neuen Freunden, will mich aber sehr wohl über vielerlei Themen austauschen, die mich interessieren. Im Web kann man da viel schneller zum Punkt kommen, anstatt erst lange smalltalken zu müssen, um sich ein wenig „bekannt zu machen“.

  11. Ohne jetzt alles gelesen zu haben: Ich sehe im „Netzbetrieb“ doch sehr eine Analogie zu den Karten und Briefen schreibenden Künstlern des letzten oder vorletzten Jahrhunderts. Man hätte auch damals argumentieren können: Wieso schreibt ein solcher Mensch manchmal mehrere „Noten“ täglich an den, mit dem er sich über Kunst, übers Schreiben oder die Politik austauschen möchte? Verwendet also Stunden des Tages an den postalischen Kontakt? Sitzt im Künstlercafe, versunken in seine Zeilen?

    Heute schätzt man wohl im Nachhinein diese Gepflogenheiten(ich erwarb vor Jahren ein Werk „Die Künstlerpostkarte“). Betrachtet es sogar als eine hohe Form des Lebendigseins.

    Gleiches will man dem „anonymen“ Austausch über Dinge des Lebens im Netz nicht zugestehen.

    Gruß
    Gerhard

  12. Computer und das Web als eine Nutzungsoption sind komplexe „Werkzeuge“, deren gekonnte Anwendung viel Übung, Zeit, Erfahrung voraussetzt. Wie der Hammer ungeeignet ist zum Sägen, ist das Web zum Erreichen bestimmter Ziele nicht das Werkzeug der Wahl.

    Wer bedauert, wir verbringen zu viel Zeit damit, übersieht und unterstellt einiges, wie: Vielleicht will nicht jeder körperlich nahe Beziehungen oder ihn befriedigt die Beschäftigung mit dem Computer oder jeder nutzt das Web auf seine Weise, allgemeine Aussagen sind nicht möglich.

    Ich freue mich über die Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten, so kann ich meine Bedürfnisse besser befriedigen.