Hat schon mal jemand das rasant gewachsene Straßennetz für die Qualität der Beziehungen verantwortlich gemacht, die Menschen heute „in die Ferne“ haben bzw. haben könnten? Was ist von den vielen Flugverbindungen zu halten, die dem bloßen Konsum touristischer Sehenswürdigkeiten dienen? Und was bringt ein noch so gut gepflegtes Schienennetz, wenn es uns einander nicht wirklich näher bringt??
Komische Sicht? Nö, ganz normal, zumindest, wenn über das Internet, bzw. das „Social Web“ geredet wird. Dass ich mich zeigen und verlinken kann, dass ich „Leuten folgen“ und mich mit XYZ „vernetzen“ kann, die dann je nach Plattform „Freunde“, „Kontakte“, „Fans“ oder wie auch immer heißen – was ist das denn MEHR als eine technische Möglichkeit?
Warum kommen so viele, durchaus intelligente Menschen dazu, fortwährend die technischen Möglichkeiten und Plattformen für die Qualität der Ergebnisse zu kritisieren? Bejammern wir die Tastaturen und Textprogramme wegen der vielen schlechten Texte? Wer ist es denn, der Beziehungen gestaltet, ihnen Oberflächlichkeit oder Tiefe, Flüchtigkeit oder Dauer verleiht?
Dann investier doch mal!
Umair Haque schreibt auf Carta über die „Social Media Blase“, der er eine „Beziehungsinflation“ anlastet:
„Zahlenmäßig haben wir heute zwar deutlich mehr Kontakte als früher. Doch wertvoll sind in Wahrheit – wenn überhaupt – nur sehr wenige von ihnen. Ähnlich wie eine Währungsinflation unser Geld entwertet, vermindert die soziale Inflation den Wert unserer Beziehungen. Schon das Wort „Beziehung“ wird dabei verwässert. Es gab Zeiten, da stand es für jemanden, auf den man bauen konnte. Heute sind es Leute, mit denen wir Informationsbits über das Netz austauschen können.
Dünne Beziehungen schaffen die Illusion echter Beziehungen. Letztere bestehen aus Strukturen gegenseitiger Investitionen. Ich investiere in dich, du investierst in mich. Eltern, Kinder, Ehepartner – sie alle verlangen mehrstellige Investitionen von Zeit, Geld, Wissen und Aufmerksamkeit. Die „Beziehungen“ im Innersten der sozialen Blase sind nicht echt, da sie gerade nicht von gegenseitigen Investitionen geprägt sind. Sie sind höchstens gekennzeichnet durch einen gelegentlichen Austausch von Informations- und Aufmerksamkeitshäppchen.“
Ich zweifle sehr daran, dass sich die „User“ tatsächlich der Illusion hingeben, all die Follower und Friends seien echte Freunde, auf die man bauen kann. Ein paar Verlinkungen und die Leichtigkeit, sie zu installieren, machen aus einem Menschen noch keinen Deppen! Und was bitte hindert irgend jemanden daran, in eine Verbindung „zu investieren“? Das geht auch mit Netzkontakten, man muss es nur wollen! Es geht sogar schneller, leichter, unaufwändiger in den Mitteln und Methoden, doch Zeit, Aufmerksamkeit und Engagement wird es immer brauchen, um sich mit jemandem „wirklich“ zu befreunden.
Dass viele meinen, das nicht mehr zu brauchen, da es ja jederzeit möglich ist, Spontankontakte auf- und wieder abzubauen, bestreite ich nicht: Ein interessantes Phänomen, über das sich viel sagen bzw. schreiben ließe – ABER im Kern kein „Netzthema“, sondern eine psychosoziale Entwicklung.
Warum so deprimiert?
Auch bei Thinkabout läuft gerade ein Gespräch über Beziehungen im Internet, das mich heut‘ Nacht zum ausufernden Kommentieren verführt hat. Im netztypischen „Kommen und Gehen“ vermisst er die Verbindlichkeit (etwas, das Menschen nicht nur ersehnen, sondern auch als beklemmend empfinden – nicht erst, seit es das Netz gibt!). Zur selben Zeit stolperte ich über Bazon Brooks Abgesang „Das Netz ist die Hölle der neuen Welt“, in dem er die Unmöglichkeit beschreibt, im Netz Vertrauen zu gewinnen und gemeinsam Wissenschaft zu betreiben. Böses Netz aber auch, das aus liebevollen und teilungsbereiten Forschern konkurrierende Ideenklauer, Abschreiber und egoistische Hyänen macht!
Ich könnte fortfahren, doch spüre ich gerade einen inneren Widerstand, die in kurzen Abständen wiederkehrende Welle deprimierten Web2.0-Bashings durch weiteren Widerspruch mit aufzuschaukeln. Warum schaffen es nur die Amerikaner so gut, jede Menge innovativer Projekte hervor zu bringen, anstatt in Kulturkritik zu versacken? Thinkabout sehnt sich nach Webseiten, „die Lust machen auf Leben“ – als sei das Leben etwas außerhalb des Netzes, wo nur Untote ihre gespensterhafte Existenz pflegen!
Genug, genug, genug! Und wem es nicht genug ist, findet hier mehr dazu:
- Die Mär von der Beziehungsinflation (zweipunktnull);
- Euphorie der Möglichkeiten – und keine Beziehungsinflation (Medienlotse)
- Revolution 2.0: Zukunftsforscher Peter Kruse über den Boom von sozialen Netzwerken
- Freundschaft in den Zeiten sozialer Medien (Digital Diary)
- Menschen erkennen im Netz (WWMAG)
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12 Kommentare zu „Wir sind das Netz! Netzkritik ist Selbstkritik“.